Ein Motiv taucht in der wissenschaftlichen und politischen Debatte seit Jahrzehnten immer wieder auf: die Beschwörung von einmaligen Herausforderungen in einer immer schneller werdenden, immer komplexer werdenden Welt mit veränderten Lebenslagen, modernen Lösungen und vermeintlich nie da gewesenen Problemen, die neue Antworten erfordern:
Gleichzeitig müssen wir uns in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes den aktuellen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Ich nenne hier nur:
- die komplexer werdenden Strukturen, inklusive der zunehmenden Internationalität,
- die Reaktionsgeschwindigkeiten auf allen Ebenen, die von uns allen immer mehr abverlangen,
- die Veränderung der Gesellschaft, die sich auch in den Erwartungen und Reaktionen auf Behördenhandeln niederschlägt.
- Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des Innern, Rede vom 17. Juni 2011
Betrachtet man nur die letzten 20 Jahre, dann wurde die Formel der »völlig neuen Herausforderungen« in Politik, Wissenschaft und Ökonomie gleich mehrfach beschworen: zur Wiedervereinigung, zur Globalisierung, zum vermeintlichen »demografischen Wandel«, zum 11. September 2001, zum Internet (facebook, new economy etc.) und zur Weltwirtschaftskrise. Immer gibt es sog. Vordenker, Experten und Propheten, die uns eine völlig veränderte Weltlage erklären und uns auf Reformen, Veränderungen und sog. neue Wege einschwören wollen.
Stets wird suggeriert, als gäbe es einen steten Wandel, eine gerade Strecke in Richtung Fortschritt und Menschwerdung. Dabei drehen sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend im Kreis. Das weit verbreitete Denken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist seit über 30 Jahren in Deutschland neoliberal geprägt, oder anders ausgedrückt: es wird von Dogmen der Flexibilisierung, Liberalisierung, Deregulierung, Lohnsenkung, des Sozialabbaus, vom sparen und kürzen und der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben geprägt und beherrscht.
Ganz im Gegenteil haben gerade die vermeintlich progressiven Kräfte in Deutschland gerade keine neuen, sondern ganz alte Wege beschritten, indem sie auf den neoliberalen Zug aufgesprungen sind. Vor allem die SPD, die GRÜNEN, aber auch andere Linke bezeichnen sich hier als »modern« und dem Zeitgeist entsprechend, obwohl bzw. gerade weil sie ausgetretene Wege beschreiten.
Insofern hat sich trotz vermeintlich großer Weltereignisse nicht wirklich viel verändert. Nach wie vor gibt es viel zu viel Hunger, Elend, Kriege, Gewalt und Armut auf der Welt. In Deutschland haben die Tafel-Bedürftigen, Kinderarmut, Altersarmut, Ausbeutungsverhältnisse wie Praktikas, prekäre Lohnarbeit usw. zugenommen. Auch bei Scheidungen, Sorgerechts- und Unterhaltskriegen, Kriminalität, Umweltverschmutzung, Selbstmorden, Vereinsamungstendenzen usw. gibt es keine spürbaren Verbesserungen, eher im Gegenteil.
Die Beschwörungen und das Gerede von neuen Herausforderungen in einer modernen Welt, die neue Lösungen und andere Wege erfordern, wird uns wohl immer begleiten. De faktisch passiert gar nichts »neues«, es werden lediglich alte Methoden, Rezepte und Denkweisen gepflegt und »kultiviert«. Der Etikettenschwindel der »immer komplexer werdenden Gesellschaft«, die »neue Lösungen« brauche, ist der Versuch den Status Quo mit all Mitteln und Methoden aufrecht zu erhalten.
Bei der nächsten Neujahrs‑, Weihnachts- oder Bundestagsansprache, oder auch bei der nächsten wissenschaftlichen Studie, sollte man mal darauf achten, wie oft uns eine Fortschrittsgesellschaft verkauft werden soll, um politische und wirtschaftliche Interessen durch zu drücken und wie konservativ wir eigentlich sind.
Der Untergang des Abendlandes™
Die Jugend von heute™
Geh doch nach drüben™
Die Kinder in Afrika™
Zieh doch auf eine einsame Insel™
Uns geht’s doch soo gut™
Die fetten Jahre sind vorbei™
Die Kinderschänder™
Die Asylanten™
Immer dieses Jammern auf hohem Niewoh!™
*gäähn*
Zu diesen Worthülsen dann noch schönes Neusprech a la »militärische Lösung« statt Krieg und... KOTZ!
D’accord, — aber zum letzten Satz noch etwas.
Das ist das wirklich interessante. Die moderne Welt als konservativ zu bezeichnen, löst mitunter beim Thekenbewohner wahrhafte Irritationen hervor. Hab ich mir mittlerweile zur Gewohnheit gemacht und bietet immer wieder aufs neue, ganz neue Ansatzpunkte für Gespräche. Nichts hassen die Leute so sehr, wie ihr geheiligtes Gefühl ganz vorne und so modern wie möglich mit zu schwimmen. Wenn man das als alt deklariert, fühlen sie sich glatt deklassiert, und fangen tatsächlich an, mit einem über andere Wege zu diskutieren. Ich hab zumindest recht gute Erfahrungen damit gemacht.
Volle Zustimmung zu dem Artikel.
Wir waren gestern zu sechst in einem Blues-Konzert. Sechs Menschen. Alle im Management (außer mir, ich bin Freiberufler im IT Sektor).
Kurz vor dem Konzert zückten alle anderen Fünf ihre iPhones um sie lautlos zu stellen. Schön konform und richtig eingespielt. In diesem Moment war ich der »Bunte Hund«. Ich nehme zu solchen Veranstaltungen nie ein Telefon mit (ich gestehe, ich habe als ITler nicht einmal ein iPhone... . Wozu auch? Wirklich!).
Ja wir drehen uns in den immer, gleichen konservativen Kreisen. Und meinen dabei wir seien auf dem Weg in den Fortschritt. Die sozialen Grenzen sind heute aber beinahe wieder so fest wie vor 150 Jahren. Der »wind of change« der in den späten sechzigern begann und bis in die frühen Achziger hinein wirkte ist verweht und vergessen ... ein paar Occupier und idealistische Piraten (keineswegs alle!) kämpfen gegen Windmühlenflügel.