In der Politik
»Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten – dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.« - George Orwell

Dass die Sprachwerkzeuge vieler Politiker, aus rhetorischen Zuspitzungen, gezielten Verleumdungen, medienwirksamen Polemiken und wahrheitsverzerrenden Statistiken bestehen, daran besteht wohl kaum einen Zweifel. Interessant wird es aber, wenn auf einmal Vokabeln geschaffen werden, die äußerst fragwürdig sind. Hier nun einige Beispiele.

Die CDU möchte, z.B., eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei und spricht sich gegen eine Vollmitgliedschaft für die EU aus. Was das genau sein soll, was wohl niemand so recht. Frau Merkel sprach von »enger partnerschaftlicher Zusammenarbeit«, »Zusammenlegung militärischer Ressourcen« und »exklusiver Handelsbeziehungen«. Als wenn es diese heute noch nicht geben würde. In vielen verschiedenen politischen Talksendungen, Interviews und Bundestagsdebatten, worauf führende deutsche CDU Politiker nach der Definition des Begriffes »privilegierte Partnerschaft« gefragt wurden, gab es keine konkrete Erklärung. Eine ablehnende Haltung der CDU, für die Vollmitgliedschaft der Türkei in die EU, soll in einem Begriff Ausdruck finden, welcher der Türkei signalisieren soll, dass sie es ja eigentlich nicht ablehnend meinen. Denn statt der bisherigen Beziehungen bieten sie der Türkei die privilegierte Partnerschaft an, auch wenn keiner weiß, was das sein soll. Ein Beispiel dafür, wie die Politik, wie so oft, versucht eine inhaltliche Ablehnung, in eine Worthülse zu stecken, welche das Gegenteil suggerieren soll.

 

Dann gibt es erfundene politische Vokabeln, die zwar meist nur eine sehr kurze mediale Überlebensdauer haben, da sie einen konkreten, gegenwärtigen Sachverhalt beschreiben, aber dennoch sehr bedenklich sind. Man denke nur mal an den Begriff des Hasspredigers. Damit wurden ausschließlich islamisch – fundamentalistische Prediger gemeint, die den deutschen Rechtsstaat ablehnen, ggf. zu terroristischen Anschlägen aufriefen und einen islamischen Staat forderten. Dem sogenannten »Kalifen von Köln« wurde dieser Titel zugesprochen. Keine Frage, dass solche Leute rechtsstaatlich zu verfolgen sind, der Begriff des »Hasspredigers« kommt jedoch einer Stigmatisierung gleich. Er ist eine sehr übertriebene Verallgemeinerung, welche das gesamtgesellschaftliche Problem des islamischen Fundamentalismus, auf den Begriff »Hass« reduziert und für eine Hexenjagd auf islamischgläubige Menschen in Deutschland Stimmung macht.

 

Leitkultur Nein Danke!
Demonstration gegen das Kopftuchverbot

Ein politischer Begriff, der in den Medien und unter deutschen Politkern ebenfalls sehr beliebt ist, ist die deutsche Leitkultur. Kaum eine zweite politische Vokabel wurde so überladen wie diese. Sie soll die deutsche Identifikation darstellen und verdeutlichen was als »typisch deutsch« gilt. Sie schließt unsere kulturelle Vergangenheit und Gegenwart, mit Kunst, Literatur und Sport ein. Sie beinhaltet unsere Sprache, unsere Wertegemeinschaft und das deutsche Grundgesetz sowie unsere Mentalität und unser alltägliches Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen. Im Laufe der politischen Integrationsdebatte wurde sie wieder mehrfach benutzt. Es wurde von Ausländern, die in Deutschland leben, erwartet, dass sie sich die »deutsche Leitkultur« zueigen machen sollen. Das klang jedenfalls mehr wie Assimilation als Integration. Das makabere daran ist, dass der Begriff der »deutschen Leitkultur« doch geschaffen worden ist, um eine deutsche Selbstfindung erst zu beginnen. Die »deutsche Leitkultur« (wenn man sie so nennen will) steckt, nach dem zweiten Weltkrieg und jahrzehntelanger Orientierung an der amerikanischen Kultur, wohl noch eher in den Kinderschuhen. Die deutsche Identifikation mit dem Begriff, »Das Land der Dichter und Denker« ist nach Hitler jedenfalls vorbei. Wie kann man dann von unseren ausländischen Mitbürgern verlangen, dass sie sich die »deutsche Leitkultur« zueigen machen sollen, wenn wir selbst nicht einmal genau wissen, wer wir eigentlich sind? »Typisch deutsch« ist zumindest unsere weltweit einmalige Bürokratie, unser Steuersystem und vielleicht noch Mallorca. Dementsprechend plädiere ich dafür, dass deutsche Politiker fortan den Arbeitstitel »deutsche Lei(d)kultur« benutzen sollten.


Die Reformpolitik der Agenda 2010

In der Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder am 14. März 2003, nahm die sog. Agenda 2010 ihren Anfang und wurde zum politischen Leitmotiv der damaligen rot – grünen Regierung. Bis zum Jahre 2010 sollte Deutschland eine Reihe von Reformen durchlaufen, welche die Arbeitslosigkeit senken, das Wirtschaftswachstum erhöhen und die sozialpolitischen Ausgaben senken sollte. Die Reformpolitik setzte sich zum Ziel, durch wirtschaftsfreundliche Reformen, die Investitionen der Unternehmen zu erhöhen und damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu senken. Die steuerlichen Entlastungen der Unternehmen wurden mit senkenden Sozialausgaben kompensiert. Dies bedeutete eine faktische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, einseitig zu Lasten der Armen und Geringverdiener. Um diesen Prozess so gut wie möglich zu verschleiern und um ihn als einzig mögliche politische Alternative zu verkaufenGerhard Schröder am 05.07.2004 in der ARD Sendung Bericht aus Berlin: »es gibt keine Alternative zu meiner Reformpolitik«, war die Neu- und Umdefinierung von politischen Vokabeln ein wichtiger Schritt der Schröder Regierung.

Zunächst wäre da einmal die (vermutlich unfreiwillige) Neudefinierung des politischen Begriffes der Reform. Denn zu Zeiten von Willy Brandt assoziierte die Bevölkerung mit dem Begriff positive Aspekte: Demokratisierung, größere Beteiligungs- und Partizipationschancen für finanzschwache oder ausgegrenzte gesellschaftliche Gruppen sowie eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Schröder Regierung hat die Bedeutung des Begriffs ins Gegenteil verkehrt, sodass heute die Bevölkerung es mit der Angst zu tun bekommt, sobald ein politischer Akteur von Reformen spricht. Denn unter Schröder bedeuten Reformen: Deregulierung, Privatisierung von Lebensrisiken, Kürzung von Sozialausgaben sowie Sozialabbau, sinkende Renten sowie Riester Rente als Zeugnis für unsichere staatliche Renten, Krankenhausgeld, höhere Zuzahlung zu Medikamenten sowie Praxisgebühr, Aushebelung der Tarifverträge durch die Förderung von sog. »Mini Jobs«, Zeitarbeit und »Ein Euro Jobs«, steigende Armut in Deutschland usw. usf. Kein Wunder also, dass Unternehmer, Großverdiener, Ökonomen und Politiker sofort den Reformstau ausrufen, sobald die Umverteilung von unten nach oben ins Stocken gerät. Schließlich sind sie es, die von den wirtschaftsfreundlichen Reformen am meisten profitieren.

 

Protestplakat von Attac
Protestplakat von Attac

Als dann die Agenda 2010 Reformen vom Großteil der Bevölkerung mit großem Unmut aufgenommen wurden, da sie erkannt haben, dass diese Reformen gegen den Großteil der Bevölkerung, jedoch zugunsten einer wirtschaftlichen Oberschicht im Land durchgeführt wurden, sprach die rot – grüne Regierung sofort von einem Vermittlungsproblem. Wenn man Politik gegen den Großteil der Bevölkerung, jedoch zugunsten einer kleinen vermögenden Schicht im Lande macht, dann hat die Regierung kein Vermittlungsproblem, sondern ein Legitimationsproblem. Denn in erster Linie sind Abgeordnete und Minister, Volksvertreter und keine Klientel – oder Lobbyvertreter. Wenn die Regierung diesbezüglich von einem Vermittlungsproblem spricht, drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, dass sie ein Großteil des Volkes für absolut dämlich halten muss. Zugleich gibt man mit dieser Formulierung offen zu, die Politik des Sozialabbaus in Deutschland nicht genug verschleiert bzw. getarnt zu haben.

Eine sehr weitverbreitete und sehr beliebte Form der Sprachmanipulation ist die Schönrederei oder auch der Euphemismus(von griech. eupheimi = schönreden) bezeichnet Worte, die einen Sachverhalt beschönigend, unkenntlich machend oder verschleiernd darstellen genannt. Als zum 1. Januar 2005 Hartz4 eingeführt und von der Bevölkerung sehr kritisch aufgenommen wurde, beschlossen führende Politiker der Bundesregierung es fortan als »Arbeitsmarktreform« zu bezeichnen. Obwohl sie inzwischen selbst zugegeben haben, dass »Hartz4« keine neuen Arbeitsplätze schafft, hofften sie doch insgeheim, dass die Assoziationen, die man gemeinhin mit »Arbeitsmarktreform« in Verbindung bringt, ihre Wirkung zeitigen und so »Hartz4« auf mehr Akzeptanz stoßen würde. Schließlich assoziierte man mit »Hartz4« noch weitere soziale Einschnitte, die sich dann Hartz5, Hartz6 usw. schimpfen würden.

Ähnlich verhält es sich mit der Umbenennung vom »Arbeitsamt« zur Bundesagentur für Arbeit. Schließlich verwaltet ein Amt nur die Arbeit, aber eine Agentur vermittelt Arbeit. Zumindest soll dieser Eindruck bei der Bevölkerung und den Medien erweckt werden, dass dem so ist. Tatsache ist aber, dass die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist und bald die 5 Millionen Marke überschritten haben wird. Diejenigen Menschen nicht eingerechnet, die durch befristete Maßnahmen, Bewerbungstrainingskurse oder öffentlichbezahlte Projekte aus der Arbeitslosenstatistik rausgenommen werden, nach der Maßnahme aber meist wieder arbeitslos werden.

In der neueren politischen Debatte wird immer wieder von Eigenverantwortung als neue Leitmaxime gesprochen. Als »Eigenverantwortung« bezeichnet man zunächst die Fähigkeit und die Bereitschaft, für das eigene Handeln, Reden und Unterlassen Verantwortung zu tragen. Die politischen Akteure benutzen diesen Begriff jedoch, um den Sozialabbau, die Privatisierung öffentlichen Eigentums und die Privatisierung von Lebensrisiken der Menschen in Deutschland zu verschleiern. Der Begriff an sich ist wertneutral, er wird jedoch in einer Art benutzt, welcher den Abbau des Sozialstaats und die Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse betont und fordert. Der neoliberale Gedanke der dahinter steht heißt: »Wenn jeder an sich denkt, ist am Ende an alle gedacht«. Es wird zudem so getan, als hätte jeder Mensch die gleichen sozialen, beruflichen und gesellschaftlichen Chancen und jeder sei selbstverantwortlich, was er daraus macht. Dass dem nicht so ist, hat die PISA Studie eindringlich bewiesen. Infolgedessen ist »Eigenverantwortung« für Menschen mit ausreichend Kapital und Vermögen sehr bequem, da diese keine solidarischen Leistungen mehr entrichten müssen. Für Menschen die unter der Armutsgrenze leben ist der Begriff Zynismus. Die Bundesverfassungsrichterin Christine Dennhardt sprach davon, dass die Debatte um Eigenverantwortung und Freiheit dort erblühe, wo die Ökonomie keine Grenzen mehr kenne. Zuwachs von Freiheit auf der Unternehmerseite bedeute häufig zugleich den Verlust von Rechten, Ressourcen und Freiheiten auf der anderen, der Arbeitnehmerseite. Gerhard Schröder sprach übrigens in seiner Agenda 2010 Rede vom 14.03.2003, 18 mal von (Eigen-)Verantwortung. Eigenverantwortung und Freiheit können jedoch nur realisiert werden, wenn die soziale Existenz gesichert ist – und gerade die wird durch den Sozialabbau immer weniger ermöglicht.


Die Sprachnormierung von »sozial«

Das Wort sozial bezeichnet im ursprünglichen Sinne das Wohl anderer im Auge zu behalten (Im Gegensatz zum Egoismus) und fürsorglich auch an die Allgemeinheit zu denken. Rechtlich sozial ist auch die Bundesrepublik, denn nach dem Grundgesetz (Art. 20 Abs. 1) ist die BRD ein sozialer Bundesstaat. Dem zu Folge hat jeder Mensch in Deutschland einen Grundanspruch darauf, dass sich der Staat, wenn man in Not ist um einen kümmert. Von der Schröder Regierung und insbesondere mit der Agenda 2010 wurde massiver Sozialabbau betrieben und infolge dessen, wurde der Begriff des sozialen neu interpretiert und definiert. Der Grundanspruch jedes Bürgers auf Sozialhilfe wurde in Frage gestellt und sogar verunglimpft. Es wurde von der sozialen Hängematte sowie im Zusammenhang mit dem sog. »Florida Rolf«, welcher mithilfe von deutscher Sozialhilfe ein vermeintlich bequemes Leben in Miami Beach führte, von Sozialschmarotzern und Sozialschnorrern gesprochen. Zudem wurde der Begriff des sozial Schwachen häufig dazu missbraucht, einem Geringverdiener, d.h. einem im eigentlichen Sinne finanziell schwachen Menschen, mangelnde soziale Kompetenzen zuzuschreiben. Stereotype Ressentiments, Vorurteile und Verunglimpfungen von Arbeitslosen – und Sozialhilfeempfängern sollten den Weg für eine glaubwürdigere Politik des Sozialabbaus ebnen. »Reformfreudige« Massenmedien, wie z.B. die Springer Presse, halfen dabei.

Von einer Anzeigenkampagne der INSM im Jahre 2002 wurde der Slogan Sozial ist, was Arbeit schafft geprägt und erschaffen. Wenige Wochen nach der Anzeige benutzte ihn der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und sogar der damalige Kanzlerkandidat Edmund Stoiber in seinem Wahlkampf. So veränderte sich die Bedeutung des Wortes sozial in der politischen Debatte dahingehend, dass, zugespitzt formuliert, fast alles erlaubt sei, was Arbeit schaffe. Der Satz hat politischen Alibicharakter, um die unsoziale politische Handlung zu rechtfertigen. Zudem stehe das Wort sozial nun nicht mehr an sich da, sondern nur noch in Verbindung mit »Arbeit«. »Umverteilung« und »soziale Gerechtigkeit« gelten nur dann, wenn Arbeit geschaffen werde. Ein weiterer bedenklicher Punkt ist, ob man jede Schaffung von prekärer Arbeit, wie Minijobs, Arbeit im Niedriglohnsektor oder Zeitarbeit wirklich noch als sozial bezeichnen kann. Zudem unterstellt der Slogan, dass Arbeit an sich schon eine so menschenfreundliche Aktivität ist, dass alles, was sie mehrt nur zu begrüßen sei. So birgt beispielsweise die Produktion von Aspest und die Arbeit mit diesem Werkstoff ein tödliches Risiko für alle, die damit in Berührung kommen. Ist Kinderarbeit sozial? Ist ein Arbeitstag von 12 Stunden an 7 Tagen sozial? Ist stundenlanges Überkopfarbeiten sozial? Ist mehrstündiges arbeiten in gebückter Haltung sozial? Ist Sklavenarbeit sozial?

 

Der jahrzehntelange Grundwert der SPD, die Soziale Gerechtigkeit oder auch die »Verteilungsgerechtigkeit«, wurde seit der Schröder Regierung immer weiter relativiert und entwertet. Zum einen, um sich dem selbstgesetzten Maßstab für die eigene Politik zu entledigen und zum anderen, um ökonomische, liberale Politik betreiben zu können, die ansonsten eher vom bürgerlichen Lager erwartet wird. Um sich den Begriff der »Gerechtigkeit« aber weiter auf die Fahnen schreiben zu können, wurden Begriffe wie »Zukunftsgerechtigkeit«, »Generationengerechtigkeit« und »Chancengerechtigkeit« geschaffen und medial geprägt. Mit der »Generationen – bzw. Zukunftsgerechtigkeit« wurden Haushaltseinsparungen gerechtfertigt, da man der nächsten Generation, d.h. unseren Kindern keine Schulden überlassen wollte. Nur waren diese Einsparungen bei den Kindergärten, bei der Kinderbetreuung, bei den Schulen und Hochschulen besonders hoch. Wer die soziale Ungleichheit in der Gegenwart erhöht, verwirklicht ganz sicher keine Gerechtigkeit in der Zukunft. Die Gerechtigkeit lässt sich nicht von der Gegenwart abkoppeln und beliebig in die Zukunft verschieben. Die »Chancengerechtigkeit« betont die »Eigenverantwortung« und teilt die Menschen, nach einer Rede von Finanzminister Peer Steinbrück bei der IHK Frankfurt am 10.01.2006, in produktive und unproduktive Gruppen. Die Aufgabe des Staates sei es fortan, »Chancengerechtigkeit« herzustellen, indem man sich nur noch um die »Leistungsträger« kümmert. Viele Begriffe der Schröder (und auch der Merkel) Regierung dienen heute dazu, den Sozialabbau zu verschleiern, die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben zu legitimieren und einen immer repressiveren Umgang mit Erwerbslosen voranzutreiben.