Gedanken über die Zeit

Im folgenden ein kurzer Auszug aus dem "Papalagi" - den Reden des Südsee Häuptlings Tuiavii aus Tiavea an seine Stammesmitglieder, welcher in den Zwanziger Jahren über ein halbes Jahr durch Europa gereist ist, um anschließend seinen Stammesmitgliedern zu berichten. Mit dem "Papalagi" ist der weiße Europäer gemeint.

Uhr "Der Papalagi hat keine Zeit. Obwohl nie mehr davon vorhanden ist, als zwischen Sonnenaufgang und Untergang hineingeht, ist es ihm doch nie genug. "Die Zeit meidet mich!" - "Die Zeit läuft wie ein Roß!" - "Gib mir doch etwas Zeit" - Das sind die Klagerufe des weißen Mannes. Ich sage, dies möchte eine Art Krankheit sein; denn angenommen, der Weiße hat Lust, irgend etwas zu tun, sein Herz verlangt danach, er möchte vielleicht in die Sonne gehen oder auf dem Flusse im Canoe fahren oder sein Mädchen lieb haben, so verdirbt er sich zumeist seine Lust, indem er an dem Gedanken haftet: Mir ward keine Zeit, fröhlich zu sein. Die Zeit wäre da, doch er sieht sie beim besten Willen nicht. Er nennt tausend Dinge, die ihm die Zeit nehmen, hockt sich mürrisch und klagend über eine Arbeit, zu der er keine Lust, an der er keine Freude hat, zu der ihn auch niemand zwingt, als er sich selbst. Sieht er dann aber plötzlich, daß er Zeit hat, dass sie doch da ist, oder gibt ihm ein anderer Zeit - die Papalagi geben sich vielfach gegenseitig Zeit, ja nichts wird so hoch geschätzt als dieses Tun - so fehlt ihm wieder die Lust, oder er ist müde von der Arbeit ohne Freude. Und regelmäßig will er morgen tun, wozu er heute Zeit hat.

Weil jeder Papalagi besessen ist von der Angst um seine Zeit, weiß er auch ganz genau, und nicht nur jeder Mann, sondern auch jede Frau und jedes kleine Kind, wieviele Mond- und Sonnenaufgänge verronnen sind, seit er selber zum ersten Male das große Licht erblickte. Ja, dieses spielt eine so ernste Rolle, dass es in gewissen, gleichen Zeitabständen gefeiert wird mit Blumen und großen Essensgelagen. Wie oft habe ich verspürt, wie man sich für mich zu schämen müssen glaubte, wenn man mich fragte, wie alt ich sei, und wenn ich lachte und dies nicht wußte. "Du mußt doch wissen, wie alt du bist." Ich schwieg und dachte: es ist besser, ich weiß es nicht. Wie alt sein, heißt, wieviele Monde gelebt haben. Dieses zählen und nachforschen ist voller Gefahr, denn dabei ist erkannt worden, wieviele Monde der meisten Menschen Leben dauert. Ein jeder paßt nun ganz genau auf, und wenn recht viele Monde herum sind, sagt er: "Nun muß ich bald sterben." Er hat keine Freude mehr und stirbt auch wirklich bald.

Ich glaube, die Zeit entschlüpft ihm wie eine Schlange in nasser Hand, gerade weil er sie zu sehr festhält. Er läßt sie nicht zu sich kommen. Er jagt immer mit ausgestreckten Händen hinter ihr her, er gönnt ihr die Ruhe nicht sich in der Sonne zu lagern. Sie soll immer ganz nahe sein, soll etwas singen und sagen. Die Zeit ist aber still und friedfertig und liebt die Ruhe und das breite Lagern auf der Matte.

Der Papalagi hat die Zeit nicht erkannt, er versteht sie nicht, und darum mißhandelt er sie mit seinen rohen Sitten, Oh, ihr lieben Brüder! Wir haben nie geklagt über die Zeit, wir haben sie geliebt, wie sie kam, sind ihr nie nachgerannt, haben sie nie zusammen- noch auseinander-legen wollen. Nie ward sie uns zur Not oder zum Verdruß. Der unter uns trete vor, der da keine Zeit hat! Ein jeder von uns hat Zeit die Menge; aber wir sind auch mit ihr zufrieden, wir brauchen nicht mehr Zeit, als wir haben und haben doch Zeit genug. Wir wissen, dass wir immer noch früh genug zu unserem Ziele kommen und dass uns der große Geist nach seinem Willen abberuft, auch wenn wir die Zahl unserer Monde nicht wissen. Wir müssen den armen, verirrten Papalagi vom Wahn befreien, müssen ihm seine Zeit wiedergeben. Wir müssen ihm seine kleine runde Zeitmaschine zerschlagen und ihm verkünden, dass von Sonnenaufgang bis -untergang viel mehr Zeit da ist, als ein Mensch gebrauchen kann."


zurück