Realitätsverleugnung

»Es ist stets einfacher, die Realität zu leugnen, als das eigene Weltbild zu hinterfragen. Diese Feststellung galt für starrsinnige Stalinisten auf dem Höhepunkt der sowjetischen Säuberungen ebenso, wie sie heute für libertäre Leugner des Klimawandels gilt. Wenn mächtige Ideologien durch Tatsachen in Frage gestellt werden, sterben sie nur selten aus. Stattdessen nehmen sie für Randgruppen Kultcharakter an.«

- Naomi Klein, »Der neue Antihumanismus«, in »Blätter«, Ausgabe Februar 2012, S. 112

Anmerkung: Die marktradikalen Anhänger des Neoliberalismus sind durch die Weltwirtschaftskrise vielleicht etwas leiser geworden, geläutert sind sie jedoch keinesfalls. Selbst wenn alles vor ihren Füßen zusammenbrechen sollte, dann war eben die USA, die Bevölkerung oder der Staat schuld. Sozialabbau, Privatisierungen öffentlicher Infrastrukturen, Liberalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Lohn- und Rentenkürzungen usw. sind jedenfalls nicht für Massenarmut verantwortlich. Komme was wolle!

Zwangsumsiedelung in Deutschland

»Die Jobcenter erhöhen den Druck auf Hartz-IV-Empfänger, die in zu teuren Wohnungen leben. Im vergangenen Jahr forderten sie 65.511 Berliner auf, die Kosten für Unterkunft und Heizung zu senken. Die Zahl der daraus resultierenden Umzüge stieg von 428 im Jahr 2009 auf 1313 im vergangenen Jahr. [...] So forderten die Jobcenter in Pankow 11.775 Hartz-IV-Empfänger auf, die Wohnkosten zu senken.«

- Berliner Morgenpost vom 27. Februar 2012

Anmerkung: Wie soll ein ALG 2- Empfänger seine Mietkosten mindern? Den Vermieter bedrohen? Im Winter die Heizung ausstellen und frieren? Warum werden nicht die Vermieter angeschrieben? Warum passt man die Miet-Obergrenze in den Jobcentern nicht den gegebenen Umständen an?

Wer glaubt, Zwangsumsiedelungen würden nur in totalitären oder diktatorischen Staaten veranlasst werden, der sieht sich heute getäuscht. Die Zwangsumzüge werden dafür sorgen, dass finanziell schwache Menschen gezwungen werden, in Berliner Bezirke zu ziehen, die heute schon als »Hartz 4‑Kieze« gelten (Wedding, Neukölln etc.), weil dort die Mieten den Vorgaben des Jobcenters entsprechen. Vielleicht will man ja so bestimmte Bezirke von Armut »reinigen«, hmm?

Drei Zitate zur Weltverleugnung

»Gleichzeitig ist der Durchschnittsmensch so selbstsüchtig mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt, dass er allem, was über seinen persönlichen Bereich hinausgeht, nur wenig Beachtung schenkt«

- Erich Fromm

»Tatsachen schafft man nicht aus der Welt, indem man sie ignoriert«

- Aldous Huxley

»Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt«

- Erich Fried

Parlamentarische Veränderungen, Gesetzesänderungen oder eine Veränderung der politischen Machtkonstellation in Deutschland bewirken rein gar nichts, wenn die Mentalität der Menschen sich nicht mit verändert. Es ist uns ein besonderes Anliegen das Elend der Welt zu verdrängen, uns nicht damit zu beschäftigen. Die heimelige Weltverleugnung ist uns lieb und teuer.

TINA lebt

Ich spreche von der Ansicht, es gebe keine Alternativen zum Monopolkapitalismus, zum sozialdemokratischen oder sowjetischen Sozialismus oder zum technokratischen Faschismus mit lächelndem Gesicht. Die Popularität dieser Ansicht ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass kaum der Versuch unternommen wurde, die Möglichkeiten einer Verwirklichung völlig neuer Gesellschaftsmodelle zu untersuchen.

- Erich Fromm, »Haben oder Sein«, dtv, München 1976, Seite 22

Anmerkung: Der überzeugte Humanist Fromm formulierte dies bereits vor über 35 Jahren. Heute ist das TINA-Prinzip (there is no alternative) zur Marktwirtschaft bzw. zum Kapitalismus oder wie auch immer man das Profite-vor-Menschen-System bezeichnen mag, allgegenwärtig. Bis weit in die Linke hinein herrscht eine »Alternativlosigkeit« zum Kapitalismus vor. Ja man weigert sich sogar vom »Kapitalismus« zu sprechen und benutzt Euphemismen wie die »soziale Marktwirtschaft« oder spricht von einer Marktwirtschaft mit menschlichem Antlitz (SPD-Jargon).

Kultivierte Doppelmoral

Barking Tigs von flickr

Nordkorea, Iran, Syrien, Somalia und Libyen sind Schurkenstaaten. »Unrechtsstaaten«, in denen böse Diktatoren ihre Bevölkerungen tyrannisieren. Wir, d.h. Europa und die USA, haben und leben die Menschenrechte. Wir, also der sog. »Westen« befürworten die Demokratie, Bürgerrechte und Meinungsfreiheit. Wir sind die Guten und sie die Bösen. So oder so ähnlich wird es uns tagtäglich durch Medien, Politik, Wissenschaft und dem Stammtisch eingeimpft. Bei genauerer Betrachtung jedoch, ist der sog. »Westen« nicht minder eine Schurkenregion. Weiterlesen

Alles bleibt anders

Ein Motiv taucht in der wissenschaftlichen und politischen Debatte seit Jahrzehnten immer wieder auf: die Beschwörung von einmaligen Herausforderungen in einer immer schneller werdenden, immer komplexer werdenden Welt mit veränderten Lebenslagen, modernen Lösungen und vermeintlich nie da gewesenen Problemen, die neue Antworten erfordern:

Gleichzeitig müssen wir uns in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes den aktuellen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Ich nenne hier nur:

  1. die komplexer werdenden Strukturen, inklusive der zunehmenden Internationalität,
  2. die Reaktionsgeschwindigkeiten auf allen Ebenen, die von uns allen immer mehr abverlangen,
  3. die Veränderung der Gesellschaft, die sich auch in den Erwartungen und Reaktionen auf Behördenhandeln niederschlägt.

- Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des Innern, Rede vom 17. Juni 2011 Weiterlesen

Die Anspruchslosen

Rund 2,8 Millionen Beschäftigte verloren in den zurückliegenden zwölf Monaten ihren Arbeitsplatz. 737000 davon hatten keinen oder nur geringfügigen Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Jeder vierte ist einer Studie der Bundesagentur für Arbeit zufolge unmittelbar auf Leistungen nach Hartz IV angewiesen.

- Jörn Boewe, Junge Welt vom 30. Dezember 2011

Anmerkung: Lohndumping, prekäre Lohnarbeit und Leiharbeit in Deutschland nehmen kein Ende. Viele verdienen in ihrer Lohnarbeit so wenig, sodass sie in Erwerbslosenzeiten von ALG 1 alleine nicht leben können und zusätzlich ALG 2 beantragen müssen. Laut dem Junge Welt Artikel ist der Anteil derer in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Ganz offen lassen sich viele Unternehmen einen Teil ihrer Personalkosten vom Amt bezahlen.

Es gibt keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz

»Es gibt keinen von der Bevölkerung tatsächlich regierten Kapitalismus, keinen Kapitalismus, indem der Wille der Bevölkerung über den Imperativen von Profit und Akkumulation steht [...] Auch dass es niemals eine kapitalistische Gesellschaft gab, in der Reichtum nicht einen privilegierten Zugang zur Macht garantierte, ist hinlänglich bekannt«

- Ellen Meiksins Wood, »Die Grenzen des Kapitalismus«, Blätter, Ausgabe Dezember 2011, Seite 55

Anmerkung: Viele glauben, wenn die SPD wieder auf den sozialen Pfad geführt werde, der Kapitalismus gezähmt werde und die Unternehmen wieder mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, ja dann, werde alles irgendwie wieder gut. Das obige Zitat verdeutlicht, dass der Kapitalismus nie in erster Linie an den Menschen gedacht hat, es ging und geht immer nur um den Profit einiger Weniger, auf Kosten der Masse. Damit will ich nicht sagen, dass der Sozialismus besser bzw. somit anzustreben sei. Dennoch muss der Kapitalismus überwunden werden, wenn der Mensch im Zentrum jeglicher Politik stehen soll.

Volk und Markt

»Griechenlands Premier Papandreou irritiert die Märkte: Er will sein Volk über das Euro-Rettungspaket abstimmen lassen — die meisten Beobachter fürchten ein Nein, was das Land in die Staatspleite treiben könnte. Die Börse reagiert verstört, der Dax startet mit einem dicken Minus in den Handel.«

- SpiegelOnline vom 1. November 2011

Anmerkung: Wer oder was sind denn »die Märkte«? Wieso werden keine Namen genannt? Die Medien sind doch sonst immer schnell dabei, Sachverhalte zu personalisieren. Beim »Markt« wird immer so getan, als sei er ein Gott-Leviathan, ein namenloses Etwas, dem man sich zu unterwerfen hat. Während der Leviathan bei Hobbes, dem Volk dienen sollte, ist er hier sein Gegenspieler: Markt vs. Volk. »Markt« und Demokratie (Volksabstimmung) vertragen sich wohl doch nicht, hm? Ich dachte immer, »die Wirtschaft« und »der Markt« seien für den Menschen da?

Gutmenschelnde Bioesser

Um ein guter Mensch zu sein, fährt man im Bioladen vor. [...] in den Kosten für das Abendessen ist dann auch etwas enthalten, das man nicht überall kriegt: ein deutlich verbessertes Gewissen. [...] Man kann sich gewissermaßen gutessen.

- Katharina Döbler, »Zurückessen«, le monde diplomatique, Ausgabe Oktober 2011, Seite 2

Anmerkung: Besserverdiener, Grünen-Wähler und Bioladen-Konsumenten brauchen sich nicht politisch zu engagieren, sich an Demos zu beteiligen oder zu streiken. Sie kaufen und konsumieren Bioprodukte und schon ist die Welt ein wenig besser, friedlicher und gerechter. Oder nicht?