
tagesspiegel.de vom 22. November 2022
Seit der großen »C‑Solidaritätskampagne«, dem ausufernden Haltungsjournalismus, der Klimaschutz-Agenda und der Generation Instagram, vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht Jemand als Bessermensch inszenieren will. Die vermeintlich eigene moralische Erhabenheit, in Kombination mit einer zur Fremdscham neigenden Hybris, wird ständig vor sich her getragen und zur Schau gestellt. Ein paar Beispiele aus dem Alltag.
Selbstoptimierung
Ich erlebe beinahe fast täglich Menschen in meiner Umgebung, die mir unbedingt (ungefragt) unter die Nase reiben müssen, dass sie jetzt kein Fleisch mehr essen, keinen Alkohol mehr trinken, viel Sport treiben, auf Zucker verzichten, Veganer geworden sind, kaum noch mit dem Flugzeug fliegen, nur noch Fahrrad fahren, ab sofort gendern, gegen die AfD, Musk und Trump sind und so weiter und so fort.
Als würde es nicht völlig genügen, mir diese Information einmal mitzuteilen — selbst wenn ich danach überhaupt nicht gefragt habe und es im Diskurskontext eigentlich überhaupt nicht passt — so müssen sie ihren eigenen Narzissmus wohl regelmäßig füttern und das bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder und wieder erwähnen. Damit auch ja jeder ihre Haltung und ihre Gesinnung vernommen hat.
Ich kann mir beispielsweise den »Gamespodcast« deshalb nicht mehr anhören. Jochen Gebauer muss nun in wirklich jeder Folge betonen, dass er seit einigen Monaten keinen Alkohol mehr trinkt. Ok. Gut. Wir haben es verstanden! Du bist ab sofort ein besserer Mensch. Es ist angekommen. Wir verehren Dich dafür! Wirklich. Können wir jetzt wieder über Videospiele reden?
Selbstinszenierung
Auch auffällig sind die Instagram-Besser-Esserinnen. Ob auf meiner Lohnarbeit oder bei Verwandten oder Bekannten: immer mehr Frauen zücken ihre Gläser und/oder ihre Tupperdosen, in denen irgendeine undefinierte Matschepampe enthalten ist. Sie alle fühlen sich wohl total individuell, dabei folgen sie alle den gleichen Influencerinnen, die ihnen irgendwelche tollen Diät-und-Besser-Esser-Rezepte »für unterwegs« erklären. Wer da sein selbstgeschmiertes Brötchen auspackt, wird mittlerweile eher mitleidig belächelt.
Es war schon immer ein Zeichen von Größe, demütig und bescheiden zu bleiben, seine eigenen Ziele, Interessen und Bedürfnisse, nicht wie ein Kleinkind ständig in den Raum zu plärren, sondern sich in Bedürfnisaufschub, Selbstdisziplin und Selbstreflexion zu üben. Erst recht, wenn man sich selbst geändert hat oder ändern will, dann sollte das eine intrinsische Motivation sein, die nicht von der Aufmerksamkeit und der Zustimmung der Außenwelt abhängig sein sollte.
Wer sich jedoch andauernd selbst ins Rampenlicht stellen und dabei noch betonen muss, dass er sich ja »jetzt zum Guten verändert« habe — der ist, in meinen Augen, eine arme Wurst. Denn wer etwas Gutes (für sich und andere) tun will, weil er oder sie wirklich etwas Gutes tun will, also aus einer inneren Motivation heraus, der macht es einfach. Ohne Fotos, Kameras oder ständig darüber reden zu müssen.
Das sind genau die Leute, die ich seit ™1974 bekämpfe.
Die Religiosität fehlt noch...nur mal so ganz nebenbei, weil es ja mittlerweile Sektencharakter aufweist.
dank für diesen tollen artikel, @epikur.
was gehen mir diese zeitgenössischen pharisäer auf den sack!
dabei ist ihre heuchlerei seit jahrtausenden schon bekannt:
»Jesus sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
»Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.«
wenn ich an die ekelhaft-plakativ-selbstgerechten auftritte dieser frau neumann denke, kriege ich das kotzen!
Die schlimmsten Nichtraucher waren auch schon immer die ehemaligen Raucher. Kenne auch diese Sorte von Veganern, die in jedem Bioladen an der Fleischtheke einen Zwergenaufstand veranstalten müssen. Man muss vielleicht als Vegetarier/Veganer die soziale Ausgrenzung in Kindheit und Jugend erlebt haben um damit nicht mehr hausieren zu gehen. Dann ist man später auch froh und dankbar, wenn andere darauf Rücksicht nehmen.
An der politischen Radikalität (»animal rights abolitionist approach«) und Konsequenz muss man ja bei aller alltäglicher Gelassenheit und sozialer Verträglichkeit keine Abstriche machen. Nur alles zu seiner Zeit und nur wenn die andere Seite auch Interesse zeigt. Ich erinnere mich noch an ein Treffen des Arbeitskreises »Bundesweiter Volksentscheid« in einem Gasthaus, wo mein Verhandeln mit der Küche über eine vegane Mahlzeit von den anderen Teilnehmern nicht unbemerkt blieb und nach getaner Arbeit beim gemütlichen Zusammensein ganz ohne Initiative von mir Fragen nach dem warum und wieso aufkamen und sich darauf eine entspannte Unterhaltung zum Thema ergab (damals war vegan noch vergleichsweise selten und unüblich, auch in alternativen Kreisen). Tausendmal besser als die missionarische Holzhammermethode, die eben auch nur vergebliche Liebesmüh‹ ist, weil es die anderen eben nur nervt (Backfireeffekt) oder wenn man schon »bekehrt« ist, es zum fremdschämen ist.
@orinoco
»Tausendmal besser als die missionarische Holzhammermethode, die eben auch nur vergebliche Liebesmüh‹ ist, weil es die anderen eben nur nervt (Backfireeffekt) oder wenn man schon »bekehrt« ist, es zum fremdschämen ist.«
Genau das beobachte ich auch bei den LGBTQIA*-Whatever-Aktivisten. Früher gab es David Bowie, George Michael, Prince, Queen, Village People usw. usf. — war alles ganz »normal«. Diese Überbetonung heute hat genau den gegenteiligen Effekt von »Toleranz«. Die Leute sind genervt davon.
Offenbar sind die alle nicht wirklich überzeugt von dem, was sie da tun. Wer Feedback wie beschrieben braucht, verfügt nicht über die nötige Überzeugung und Konsequenz für ein Vorhaben. Ist ungefähr so wie bei Witzen: man schaut immer erst zum Nachbarn rüber, ob der lacht. Erst dann lacht man selbst.
Warum gibt es keine Veganer auf dem Mond?
Weil sie dort niemandem mitteilen können daß sie Veganer sind...
@orinoco
»Man muss vielleicht als Vegetarier/Veganer die soziale Ausgrenzung in Kindheit und Jugend erlebt haben um damit nicht mehr hausieren zu gehen.«
Scheint mir tatsächlich ein wesentlicher Punkt zu sein. Hab das selber noch in Ausläufern erlebt, wobei ich gar kein Vegetarier bin, sondern wohl das was heute als »Flexitarier« bezeichnet wird (naja, Hauptsache Arier...).
Da hat es oft sogar gereicht, an einem einzelnen Tag die vegetarische Pizza zu essen ohne Salami, und mancher hat blöd geguckt oder gar blöd dahergeredet.
Heute ist das nicht mehr bottom-up, sondern top-down in vielen Fällen, man will sich distinguieren.
@epikur
Divine, Klaus Nomi, Bob Mould, Marc Almond, um noch ein paar weitere zu nennen die halt als Musiker zufällig schwul waren und keinen Riesenaufstand darum gemacht haben.
»Die schlimmsten Nichtraucher waren auch schon immer die ehemaligen Raucher« (orinoco)
Früher gab es in diesem Sinne die Redensart vom »Eifer des Konvertiten»¹, gehört also zum ›altehrwürdigen‹ Fehlverhalten des Menschen.
Vor lauter Neid auf die genannten Tugend-Vuvuzelas gelobe ich hiermit feierlichst, nie wieder die Russische Verteidigung² zu verwenden, falls ich irgendwann doch nochmal eine Partie Schach spielen³ sollte.
¹Zunächst aus dem Kriegerisch-Religiösen, z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar_Schoppe »Mit dem Eifer des Konvertiten attackierte er die Calvinisten«, »er zum totalen Krieg gegen die Protestanten aufrief«
²Englisch auch Petrov’s Defence, 1.) e2-e4 e7-e5 2.) Sg1-f3 Sg8-f6. Geht bei mir eh schlecht, weil ich mit Schwarz eigentlich lieber ’schräge‹ Eröffnungen wie 1.)... b7-b6 oder 1.) ... b7-b5 (a7-a6) spiele
³Jedenfalls gegen einen Menschen; Gegen (Schach-)Computer gilt bekanntlich eine Art von Beichtgeheimnis
@orinocco:
Die schärfsten Kritiker der Molche waren früher Dolche...