In Würde altern

Mit Mitte 40 wachsen auch bei mir die ersten grauen Haare und die körperliche Fitness lässt langsam nach. Kleinere (oder größere) chronische Erkrankungen habe ich zwar noch nicht, aber die werden sicher auch bald kommen. Seit rund einem Jahr brauche ich zudem eine Lesebrille. Gleichzeitig werde ich bei vielen Dingen sehr viel gelassener. Ich werde eben älter. Ja und?

In meinem persönlichen und beruflichen Umfeld ist das »älter werden« sehr oft ein Thema. Da werden Aktivitäten, Strategien oder Produkte jedweder Art besprochen, um das »älter werden« zu verzögern oder zu kaschieren. Angefangen von neu entdecktem Sport-Eifer, über Falten-und-Anti-Aging-Cremes, Kollagen-Pulver für die Gelenke, Fasten-Wandern, graue Haare (weg-)färben oder neue Haare einpflanzen via Eigenblut-Therapie bis hin zu Botox-Behandlungen.

Das Motto lautet: Bloß nicht der eigenen Vergänglichkeit ins Auge blicken! Generation Instagram tut hier ihr Übriges. Zahlreiche ‑unabhängige und uneigennützige- Influencer versprechen ein paar weitere Jahre Jugendlichkeit, wenn man nur Dieses oder Jenes macht, kauft oder bestellt.

Während sich also Freunde, Kollegen und Bekannte mit gegenseitigen Tipps beeindrucken wollen, beißen sie bei mir damit regelmäßig auf Granit, weil ich ihnen sage, dass ich mit dem »älter werden« keinerlei Probleme habe. Natürlich glauben sie mir nicht. Denn das geht ja nicht. Niemand will »älter werden« und jeder muss damit ein Problem haben. Deshalb freuen sich auch immer alle, wenn sie ‑vom Aussehen her- jünger eingeschätzt werden, als sie tatsächlich sind.


Fremdwert
Die ach so feministische TAZ gibt sich bei dem Thema die Blöße, in dem sie behauptet: »Altersdiskriminierung von Frauen: In Würde altern – unmöglich.« Als Beispiele führt sie weibliche Promis und Schauspieler-Frauen an, die wegen ihres älteren Aussehens vermeintlich diskriminiert werden. Ja, Altersdiskriminierung ist ein großes Thema. Existiert aber geschlechtsübergreifend. In allen Lebensbereichen. Altersarmut hingegen, scheint für die TAZ kein wichtiger Kontext für Altersdiskriminierung zu sein.

Frauen hier als besondere Opfer darzustellen, verdeutlicht nur, dass auch die Autorin Christina Focken den Wert einer Frau hauptsächlich über ihr Aussehen definiert. Sollte ein moderner und aufgeklärter Feminismus nicht eben gerade das zu überwinden versuchen? Und vielleicht mal ältere Frauen als Beispiele heranziehen, die durch ihre Lebensleistung, ihr Wissen, ihr Können, ihren Charakter und/oder ihre Persönlichkeit, in Würde gealtert sind? Stattdessen wird sich darüber beklagt, dass ein Kerl den 60-Jahre alten Hintern von Madonna nicht mehr attraktiv findet.

Schaut man sich weiter im Web zum Thema um, tauchen die üblichen Verdächtigen auf: Resilienz aufbauen. Gesunde Ernährung. Sport. Soziale Kontakte pflegen. Und natürlich darf die Zwangsharmonie-Keule nicht fehlen: eine positive Einstellung haben. Ja, so reden alle Selbstoptimierungs-Coacher, die kaum auf individuelle Lebensumstände, Interessen und Leidenschaften eingehen (wollen), sondern ausschließlich ihr universelles Glückshandbuch rezitieren.

Denn: Glück, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit sollten aus (ur-)eigenen Interessen, Bedürfnissen und Zielen erwachsen und das kann durchaus auch bedeuten: »Verschwende Dein Leben!« Das aber, würde ein Selbstoptimierungs-Coacher niemals empfehlen. Denn man soll ja Leistung bringen. Ziele setzen. Erfolg haben. Sich selbst als Ware und Objekt definieren, das »bearbeitet« werden kann.


»Was für das Funktionieren des heutigen Wirtschaftssystems gut ist, erweist sich für den Erhalt der seelischen Gesundheit des Menschen als schädlich.«

- Erich Fromm. »Die Pathologie der Normalität«. Ullstein Verlag 2012. S. 10


Selbstwert
Das Grundproblem ist, meines Erachtens, die Selbstwertdefinition über Aussehen und Oberflächlichkeiten. Wer sich sein Selbstbewusstsein, sein Leben lang, primär über die Bestätigung und Anerkennung von anderen Menschen geholt hat — bekommt mit zunehmenden Alter damit zwangsläufig ein Problem. Spätestens im Alter sollte man sich von der Abhängigkeit der Meinung Anderer weitgehend gelöst haben.

Im narzisstischen Social-Media-Zeitalter bekommt das Phänomen der sozialen Anerkennung jedoch eine verstärkte Dimension. Außerdem herrscht immer noch das kapitalistische Verwertungsprinzip vor, bei dem »das Alte« als verbraucht und verschlissen bewertet wird — während man stets auf der Suche nach »etwas Neuem« ist. Es gilt zudem im Alter, sich selbst nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt wahrzunehmen. Nur so gelingen auch Ausstrahlung und Charisma. Darüber hinaus sind auch ältere Menschen, die warmherzig, gütig und liebevoll sind, durchaus attraktiv.

Man kann dem »älter werden« ebenfalls etwas positives abgewinnen. Man wird ruhiger, gelassener und ausgeglichener. Vorrausgesetzt, man hat etwas geschaffen, Erinnerungen und Bindungen aufgebaut, dass einem Stärke, innere Ruhe und (Selbst-)Vertrauen gibt. Und das kann alles sein: Liebespartner. Familie. Kinder. Haustiere. Hobbys. Leidenschaften. Reisen. Freunde. Lebenserfahrung. Ein erweiterter Horizont. Eine berufliche Karriere. Verwirklichte Träume.

Wer aber sein Leben lang ‑mental, geistig, rational und/oder emotional- nur auf der Stelle tritt, kann auch nicht in Würde altern, sondern braucht Botox, um den eigenen Stillstand zu kaschieren.


Selbstoptimierung
Selbstentfremdung

9 Gedanken zu “In Würde altern

  1. Selbstbetrug hat doch im Moment Hochkonjunktur. Man ist sich ständig nicht selbst gut genug, was wohl auch daran liegt, dass einem das ständig von anderen eingeflüstert wird. Von den von dir genannten Mittelchen mal ausgenommen, ist ja auch Haltung ein extern eingepflanztes Mittel zur Selbsterhöhung. Doch das funktioniert nicht ohne Feedback von außen. Ist so ähnlich wie das Klischee vom Sozialverhalten des Lachens: Zu wenige lachen über Witze, ohne sich per Seitenblick eine »Erlaubnis« abzuholen? War das witzig? Blick in die Gruppe, keiner lacht, ach nee, war dann wohl nicht witzig. Reine Gruppendynamik. Auch Stichworte wie Selbstoptimierung sind in sich widersprüchlich. Es wird nicht selbst optimiert, sondern liest aus eben solchen Büchern oder Videos anderer ab. Das ist erst mal normal, irgendwie. Aber man kann die Fremdbestimmung auch übertreiben (lassen). Und dann wird man schnell bauchgefühlt unauthentisch. Das Altern und die Extremmethoden, das zu verschleiern, ist dann einer ein Höhepunkte des Selbstbeschiss, weil es unter anderem auch das eigene »Versagen« immer deutlicher hervortreten lässt. Auch wenn es gar nichts mit Versagen zu tun hat.

  2. Kleinere (oder größere) chronische Erkrankungen habe ich zwar noch nicht, aber die werden sicher auch bald kommen.‹

    Das muss nicht unbedingt so sein. Kleine Zipperlein reichen doch auch und die auch nicht schon so bald :D
    Oder?

    >Geistiges Heilen hat eine große Zukunft. Ein Zitat des weltberühmten Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung (*1875; †1961) verdeutlicht dies: „Ich glaube, dass Heilen auf nicht materiellem Weg, durch geistige Methoden, eine Zukunft ungeahnter Möglichkeiten hat. Und ich glaube, dass ihr Bereich allmählich über das, was wir heute, zu Recht oder Unrecht, als funktionell bezeichnen, hinauswachsen und auch alles Organische umschließen wird. Ich sehe die Morgenröte einer neuen Zeit vor mir aufleuchten, in der man gewisse chirurgische Eingriffe, z.B. an inneren Gewächsen, als bloße Flickarbeit ansehen wird, voller Entsetzen, dass es überhaupt einmal ein so beschränktes Wissen um Heilmethoden gab. Dann wird kaum noch Raum sein für althergebrachte Arzneimittel. Es liegt mir fern, die moderne Medizin und Chirurgie irgendwie herabzusetzen, ich hege im Gegenteil große Bewunderung für beide. Aber ich habe Blicke tun dürfen in die ungeheuerlichen Energien, die der Persönlichkeit selbst innewohnen, und solche außerhalb liegenden Quellen, die unter gewissen Bedingungen durch sie hindurchströmen und die ich nicht anders als göttlich bezeichnen kann. Kräfte, die nicht allein funktionelle Störungen heilen können, sondern auch organisch bedingte, die sich als bloße Begleiterscheinungen seelisch-geistiger Störungen herausstellten.“<

    Zitat hier entnommen:
    https://www.aurachirurgie.me/
    Gewisse Anregungen auch in der Digitalen Klinik dieser Seite.
    Oder hier entlang: https://www.brunoerni.com/fernbehandlung/
    Auf einem der eingepflegten Fotos kann man auch Daniele Ganser mit Bruno Erni finden.

  3. Tja, alt werden ist nix für Feiglinge. Ist ja auch begreiflich, wenn man mal sieht, wie es am Ende aussehen kann.
    Deswegen gibt es so wenig Altenpfleger, deswegen werden Pflegeheime so gerne versteckt, deswegen zeigt die Werbung unter dem Stichwort »Senioren« so gerne grau gefärbte Fünfziger.

    Schwäche. Kapitalistische Unverwertbarkeit. Der Beweis, daß nichts ewig weitergeht — Leben, Wachstum, das Universum und der ganze Rest. Das kann sich doch kein zivilisierter Mensch antun.

    Bloß nix unangenehmes. Bloß nicht eingestehen, daß es Grenzen gibt. Bloß nicht eingestehen, daß die Welt auch ohne einen selbst weitergeht. Bloß nix hergeben wollen.

  4. »Lesebrille«
    Meistens gehe ich ohne aus und gönne mir eine kleine Extravaganz, indem ich gegebenenfalls eine Klapp-Lupe aus der Hosentasche ziehe, wenn scharfer Blick gefordert ist (Fahrplan, Hinrichtungskalender...)

    »gelassener«
    Viele alte Menschen sind keine Geduldskünstler, obwohl das natürlich mit geistigem Abbau zu verwechseln ist, typisch: »Ich habe keine Geduld mehr fürs Kreuzworträtsel.«

    »von neu entdecktem Sport-Eifer, über Falten-und-Anti-Aging-Cremes, Kollagen-Pulver für die Gelenke, Fasten-Wandern, graue Haare (weg-)färben oder neue Haare einpflanzen via Eigenblut-Therapie bis hin zu Botox-Behandlungen.«
    Kokain! Nur Kokain kann euch Kahlköpfe in jugendliche Adonisse verwandeln, die nebenbei 3 Nobelpreise abkassieren und einen Krieg gewinnen, so wie SellerieUndSki.

    Wie gut (wenig schlecht !?) man mit dem Altern zurecht kommt, verteilt sich wohl bei Menschen in einer Art von Spektrum: Ein Extrem wären solche, für die das Altern so locker-flockig abläuft wie in manchen ›Frauen-Pornos‹ in der Glotze — Ein anderes solche mit z.B. chronifizierter Depression, da bleibt dann nur noch die Hoffnung, dass das Ende möglichst kurz und schmerzlos sein möge; Die ’normale‹ Altersarmut für ›Leistungsversager‹ kommt dann obendrauf.

  5. In dem Augenblick, als ich den Text las, dachte ich an Gunnar Kaiser (+ 47) sowie an Ingmar Bergmans Fiim »Das siebte Siegel«. Deshalb gehe ich einen Schritt weiter: Memento mori.

  6. Schönheit und Jugend vergeht;
    Dummheit bleibt.

    Alle wollen alt werden, aber keiner will älter werden und niemand will alt sein.

    Die Lücke, die wir hinterlassen, ersetzt und vollkommen
    — Carl-Heinz Schroth

    Zu dem Zitat von Fromm:
    insbesondere die womenomics/abenomics — siehe mein Artikel, Buch oder Blog zum Thema.

  7. Wenn mit so Rechtsbegriffen wie »illegal« oder »völkerrechtswidrig« um sich geworfen wird, frag ich mich als juristischer Laie, der aber schon mal ohne juristischen Beistand beim EGMR erfolgreich eine Beschwerde geführt hat, immer welches ordentliche Gericht mit welcher gesetzlichen Begründung denn das rechtsverbindlich und rechtskräftig so festgestellt hat, dass es als allgemein gültige, laufende Rechtsprechung gelten kann. Ich finde selten eine Antwort.

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