Der Großteil aller familiären Konflikte entstehen, weil die Eltern ihre Kinder nicht selbst entscheiden lassen. Weil sie den Sprung von der Erziehung zur Beziehung nicht geschafft haben oder ihn bewusst nicht machen wollten. An der familiären Hierarchie will man unbedingt festhalten. Wir (Eltern) hier oben und Ihr (Kinder) dort unten. Die Kinder haben womöglich andere Vorstellungen von der Partner‑, Berufs‑, oder Lebensmittelpunktwahl, als die Eltern. Sie haben eventuell eine andere Vorstellung davon, was ihnen Spaß macht, was sie als wichtig und erstrebenswert erachten. Sie haben vielleicht eine andere sexuelle Orientierung. Oder sehen einen anderen Sinn in ihrem Leben. Dabei wäre es so einfach, sämtliche Konflikte und Missverständnisse in allen Familien auf ein Minimum zu reduzieren.
Betreuter Verstand
In der klassischen Psychotherapie wird in aller Regel fast immer nach den familiären Verhältnissen gefragt. Nach unbewussten Traumata in der Kindheit, dem Verhältnis zur Mutter und zum Vater sowie den eigenen Umgang damit. Eine riesige Coacher‑, Berater- und Therapie-Industrie lebt von familiären Konflikten. Ja, genau so zynisch kann man es formulieren, denn genau so ist es doch! Gäbe es weniger familiäre Konflikte und Missverständnisse, wäre die Nachfrage nach allerlei Moderatoren, Supervisoren, Coachern, Beratern und Therapeuten deutlich geringer. Dabei ist es selten so, dass sich alle Beteiligten einfach nicht verstehen und sie nur mal miteinander reden müssen. Die Probleme liegen ‑wie so oft- deutlich tiefer.
Da wäre zum Einen der mittlerweile tief verinnerlichte neoliberale Habitus: Haben- und Besitzdenken (»Mein Kind!«), Objektreduzierung statt Seins-Bezogenheit (das Kind als Status-Symbol), Nützlichkeits- und Funktionsdenken (»Kind, lerne etwas Anständiges in Deinem Leben!«) sowie eine kaum noch vorhandene Ambiguitätstoleranz. Ja, die gute Mutter und den guten Vater machen aus, widersprüchliche bzw. gegenseitige Werte, Meinungen und Einstellungen der eigenen Kinder ertragen zu können, ohne gleich auszuflippen. Konkret: eine dogmatische Veganer-Mutter beispielsweise, sollte ihrem Sohn erlauben eine Salami-Pizza essen zu dürfen.
Betreute Emotionen
Viele Familienkonflikte entstehen ‑wie in allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen auch- weil die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit so groß ist. Wir alle sind extrem durch Hollywood sowie durch popkulturelle Vorstellungen von »der perfekten Familie« konditioniert und sozialisiert worden. Sie ist immer füreinander da, hilft sich, liebt sich, redet miteinander und geht zusammen durch dick und dünn. Ich habe in meinen rund 40 Lebensjahren noch nicht eine Familie gesehen, die so tickt (Mit Ausnahme der »Kelly Family«). Es gab immer irgendwelche Differenzen. Statt diese aber offen auf den Tisch zu packen, sie zu klären und zu lösen, will man lieber die popkulturelle ‑in der Realität häufig eher bigott anmutende- (Zwangs-)Harmonie auf Familienfeiern zelebrieren. Zugegeben: nicht jeder Konflikt und jede Differenz lässt sich lösen.
Ich verstehe bis heute nicht, warum Eltern bei ihren erwachsenen Kindern stets erwarten, dass sie sich melden und die Kinder sie besuchen sollen. Ich habe das schon so oft erlebt, dass ab einem gewissen Alter viele Eltern und Großeltern nicht nur extrem unflexibel in Körper und Geist werden, sondern dass sie zusätzlich ein »Investitions- und Rendite-Denken« an den Tag legen. Schließlich habe man die eigenen Kinder jahrelang ernährt und sich um sie gekümmert. Nun wären die erwachsenen Kinder verpflichtet, sich regelmäßig bei ihren Eltern zu melden, um ihnen quasi die letzte Ehre zu erweisen. Mit einer gleichberechtigten Beziehung auf Augenhöhe hat das freilich wenig zu tun. Genau das ist aber essentiell, wenn Eltern mit ihren erwachsenen Kindern eine gut funktionierende und halbwegs harmonische Beziehung führen wollen.
Fazit
Wenn alle Beteiligten Toleranz und Respekt wirklich verinnerlichen würden, gäbe es deutlich weniger Konflikte in den Familien. Ich kann aus meinem Bekannten‑, Verwandten- und Freundeskreis dutzende SOAP-Family-Stories erzählen, bei denen es fast immer darum geht, dass Mütter, Väter, Großeltern, Schwiegereltern, Brüder, Schwestern, Tanten oder Onkel sich in das Leben der Anderen, vornehmlich der Kinder und der jüngeren Familienmitglieder, einmischen. Ihnen ungefragt ihre Werte und Meinungen einimpfen wollen, weil sie angeblich ‑als Erwachsene- die volle Ahnung von allem haben. Die Kinder nicht So-Sein lassen können und wollen. Sie alle »nur das Beste« für ihre Kinder wollen. Und oft damit genau das Gegenteil erreichen.
Auch im Web sind tausende Foren zu finden, bei denen sich Familienmitglieder (und nicht nur die) ständig um sich selbst und den eigenen kleinen Familien-Mikrokosmos drehen. Dabei wird keine politische oder bürgerliche Kampagne zum Thema Toleranz und Respekt jemals erfolgreich sein, wenn viele es nicht einmal schaffen, diese Werte in der eigenen Familie zu leben. Über Toleranz, Respekt und Wertschätzung reden sie alle. Diese Werte wirklich verinnerlicht haben die Wenigsten.
Da gibt es Trost: Erwachsene Kinder erwarten auch, dass du dich meldest. ;-)
»Ich habe in meinen rund 40 Lebensjahren noch nicht eine Familie gesehen, die so tickt (mit Ausnahme der »Kelly Family«).«
:D Ich bin zwar 5 Jahre älter, würde es aber nicht besser ausdrücken können. Dummer Weise kriege ich jetzt wieder die Bilder von der Bühne im Dorf, wo scharenweise kleine Mädels mit lustigen, selbstgemalten Plakaten den größten Teil des Mobs bildeten, der einer Duracellbatteriebatterie auf der Bühne huldigte, nicht aus dem Kopf.
»Über Toleranz, Respekt und Wertschätzung reden sie alle.« Ja? Vielleicht auf dem Elternabend. Sonst geht es eher um Materialismus.
»Da wäre zum Einen der mittlerweile tief verinnerlichte neoliberale Habitus: Haben? und Besitzdenken (»Mein Kind!«), Objektreduzierung statt Seins?Bezogenheit (das Kind als Status?Symbol), Nützlichkeits? und Funktionsdenken (»Kind, lerne etwas Anständiges in Deinem Leben!«) «
Wenn du »neoliberaler Habitus« schreibst klingt das nach was Neuem.
Ich bin Jahrgang 1960 und kenne »Erziehung« nicht anders. Vielleicht ist da heutzutage ein gewisser Touch in Beziehung auf finanziellen »Erfolg«, aber das Prinzip ist doch uralter bourgeoiser Kaffee.
Erziehung ist Dressur, das Kind wird passend gebogen oder zerbricht.
Der Rest ist Zeitgeist, bei uns gab es noch aufs Maul, verbal und tätlich, auch in aller Öffentlichkeit. Dafür war das Phänomen »Geschrei an der Kasse« und »auf dem Boden wälzen im Kaufhaus« völlig unbekannt. Wie gesagt, Zeitgeist.
@BerndH60
»aber das Prinzip ist doch uralter bourgeoiser Kaffee.«
Ja! Wieder ein Beweis dafür, dass der Fortschritt nicht immer nur voran geht, sondern auch in Kreisen verläuft.
»Erziehung ist Dressur, das Kind wird passend gebogen oder zerbricht.«
Naja, man muss schon sagen, dass es in den Erziehungswissenschaften und der Pädagogik in den letzten 30 Jahren große Fortschritte gegeben hat, man die Bedürfnisse und Interessen der Kinder mehr in den Mittelpunkt gerückt hat. Oft ist das aber eben auch mehr Schein als Sein. Denn sobald die eigenen Kinder nicht mehr den eigenen Wert- und Lebensvorstellungen entsprechen, ist es oft aus mit der »Selbstwirksamkeit«.
Ein Glück, das dieser Kelch, wenn auch ganz bewußt vorrüber gegangen ist... ;-)
Ganz schlimm ist es, wenn Eltern ihren Kindern schon sehr früh unterschwellige Signale senden wie das Kind, laut ihren Wunschvorstellungen, zu sein hätte. Junge oder Mädchen, daran oder daran interessiert — das Ebenbild, die beste Freundin oder den Spielkameraden, den sie nicht hatten. Mittel um die eigene auf der Strecke gebliebene narzisstische Bedürftigkeit zu befriedigen, die schon deren Eltern in ihnen hinterlassen haben...
Es ist schlimm, weil Kinder besonders feine Antennen dafür haben, das zu spüren, und ungefragte Bereitschaft hegen, sich dem automatisch anzupassen, weil es ihre primären Bezugspersonen sind (die u. a. auch dafür sorgen, dass sie versorgt und beschützt werden).
es gibt auch Eltern die mit Ihren Kindern abschließen .... das gebietet der Respekt vor sich selbst ... Familie können auch andere Menschen sein ...
also liebe betroffene Eltern ... Kopf hoch ...Beachtung macht stark deshalb keine schenken ...