Presseblick (59)

Der »Kiezneurotiker« ist weg. Einfach so. Ohne Ankündigung, Brandrede oder Verabschiedung. Vorausgegangen war ein Streit mit dem Kiezschreiber. Ob der aber was damit zu tun hatte, weiß ich nicht.

kiez

Sein Zynismus, die direkte und rotzfreche Art, sowie der ehrliche Blick eines Menschen, der sein tägliches Lohnarbeits-Hamsterrad reflektiert hatte, werden mir fehlen. Auch die Rubrik »Junkfrass aus der Hölle«, bei der er widerliches Fast Food getestet hatte, war amüsant. Claudia Klinger stellt fünf Thesen auf, warum er so plötzlich verschwunden ist. Traurig ist leider auch, dass kaum jemand in Kleinbloggersdorf davon Notiz nimmt. :( 

Politik
Wer dem Immobilien-Großkapital ans Leder will, der wird fertig gemacht. Jüngst geschehen mit dem Sozialwissenschaftler und parteilosen Andrej Holm. Kollege Flatter von Feynsinn hat dazu alles Wesentliche bereits geschrieben. Nur noch soviel: während die NPD wegen »Unwichtigkeit« nicht verboten wird (die KPD bleibt es aber!), die NSU-Morde bis heute nicht aufgeklärt sind (aber schon fünf Zeugen geselbstmordet wurden), gegen die NSA-Total-Überwachung nichts unternommen wird und der Verfassungsschutz im Falle Amri eine unrühmliche Rolle spielte, werden Menschen, die sich für bezahlbare Mieten und eine soziale Wohnungspoltiik einsetzen, als knallharte Kommunisten verfolgt. Willkommen in Kapitalistan!

netzpolitik.org vom 20. Januar 2017

netzpolitik.org vom 20. Januar 2017

Ob dort schnell ein Gesetz beschlossen wurde, um der hartnäckigen Journalistin Gaby Weber keine neuen Erkenntnisse liefern zu müssen? ;)

Der politisch inszenierte, öffentliche Umgang mit Menschheitsverbrechen und Völkermord in und von Deutschland, ist eine ambivalente Sache. Zwar gibt es regelmäßig Gedenkfeiern und Erinnerungsreden sowie öffentliche Mahnmale, dennoch gibt es immer wieder »Schlußstrich-Mentalitäten«. Scheinbar werden die Opfer auch in verschiedene Klassen eingeteilt. Denn weder für die ermodeten Sinti und Roma im NS-Faschismus, noch für den Völkermord an den Herero und Nama im Jahre 1904 (mehr als 100.000 wurden ermordet) will man angemessene Entschädigungen zahlen. Wenn überhaupt. Stattdessen durfte Ausschwitz, als Rechtfertigung für den Angriffskrieg gegen Jugoslawien im Jahre 1999, dienen.

Und jetzt bitte alle mal festhalten. Der Verarschungs-Wahnsinn nimmt kein Ende:

zeit.de vom 24. Januar 2017

zeit.de vom 24. Januar 2017

Mir kommt jetzt schon mein Mittagessen hoch, wenn die Agenda 2010-Spezialdemokraten mir etwas von »sozialer Gerechtigkeit« erzählen wollen. Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung sehr geschichtsvergessen ist: Hartz4-Sanktionen-und-Schikanen-Willkür ist für Millionen von Menschen bitterer Alltag. Das wird der SPD nicht so schnell verziehen werden. Da kann ein Martin Schulz labern, was er will. :sick:

Neoliberalismus
Deutschland geht es gut! Also allen Menschen, die in Deutschland leben! Im Land der Freiheit und Demokratie. So und nicht anders lautet das offizielle Dogma. Das hier, bei uns im Land der Reichen und Vermögenden, minderjährige Kinder bewusst in die Obdachlosigkeit geschickt werden, kann doch nur das Gerede von vaterlandslosen Gesellen sein! Oder?

Die acht reichsten Menschen besitzen soviel wie die ärmsten 50 Prozent auf der Welt. An dieser Stelle muss ich wieder einmal betonen, wie realitätsfremd und verharmlosend ich die Formulierung von »die Schere zwischen arm und reich wächst immer weiter« halte. Was bitte soll da noch groß »wachsen«? Wenn einer soviel besitzt wie die ärmsten 50 Prozent? Es wäre mutiger, wenn linke Wissenschaftler, Akademiker und Redakteure statt ständig vor der Zukunft zu warnen, schreiben würden, dass es jetzt so ungerecht ist. Heute. In diesem Augenblick. In der Gegenwart. Da »wächst« nichts mehr, »driftet« oder »klafft« auseinander« oder »nimmt zu«. Solche Formulierungen verharmlosen in krasser Weise den derzeitigen Ist-Zustand.

Medien
In Artikel 5 unseres Grundgesetzes heißt es: »Eine Zensur findet nicht statt«. Aber das Grundgesetz hat unsere Bundesregierung noch nie davon abgehalten, menschenrechtlich, bedenkliche Gesetze und Vorhaben umzusetzen. Das Wahrheitsministerium von George Orwell´s »1984« ist eine ganz realistische Gefahr:

 „Es ist nicht ganz einfach, eine Institution zu schaffen, die sozusagen in Form einer Wahrheitskommission entscheidet, was ist wahr und was nicht. Dann muss ja auch noch entschieden werden, was ist relevant oder was ist nicht relevant. Da befinden wir uns am Anfang einer Diskussion.”

Justizminister Heiko Maas (SPD), zeit.de vom 13. Dezember 2016

RT Deutsch vom 26. Januar 2017

RT Deutsch vom 26. Januar 2017

Um dies zu bewerkstelligen wird correctiv.org eingesetzt. Vordergründig eine journalistische Non-Profit-Organisation, die aber von Google, der Deutschen Bank, der Open Society Foundation von George Soros, RTL und auch mit Steuergeldern finanziert wird. Im sogenannten Ethikrat von correctiv sitzen unter anderem:  Nikolaus Bender, früherer Chefredakteur des ZDF, Ulrich Reitz, Chefredakteur von Focus, Cordt Schnibben, Redakteur beim Spiegel, Oliver Schröm, Leiter Investigative Recherche Stern, Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit-Online und Stefan Willeke, Chefreporter bei der Zeit. Und so weiter und so fort.

Arbeitswelt
Frau Draesner schreibt auf zeit.de über die Probleme des Älterwerdens: »Wie wir mit Alter umgehen, bestimmen wir zu einem guten Teil selbst – aus unserer Kultur und insbesondere, wie es scheint, aus unserer Ökonomie heraus.« Mehr traut sie sich nicht zu sagen. Ältere Menschen sind im Kapitalismus vor allem deswegen nicht »angesagt«, weil das absurde Dogma des unendlichen Wirtschaftswachstums ‑auf einer endlichen Welt mit endlichen Ressourcen- jedes Produkt, jede Dienstleistung und jede Idee als frisch, neu, jung, leistungsstark und unverbraucht anpreisen und verkaufen will. Eigenschaften, die der Jugend mehr zugesprochen werden. So weit denkt aber eine Frau Draesner nicht. Da wird lieber geklagt: »Junge Männer gehen blicklos vorbei.«

7 Gedanken zu “Presseblick (59)

  1. Schade um den Kiezneurotiker!! Die ehrlichste Beschreibung der Arbeitswirklichkeit der gehobenen Mittelschicht ist damit aus dem Netz verschwunden. Meine These zum Ende des Kiezneurotikers: Das Kind hat lesen gelernt.
    Zur Frau Draesner ein Musiktipp:https://www.youtube.com/watch?v=zB8HP8DdFQY (Ulrich Roski — Wo ist der Schnee vom vergangenem Jahr)
    Altwerden ist blöd, der Kapitalismus macht es für die meisten Leute nicht besser.
    Zum Kapitalismus allgemein sollte man zwei Wahrnehmungen trennen. Zum einen ist die jetzige Situation unerträglich und um unerträglich zu sein, bedarf es keiner weiteren Verschlimmerung.
    Es ist aber zu beobachten, dass sich in bestimmten geographischen Bereichen (Westeuropa, Nordamerika, Japan, Arabien) die Lebensbedingungen gerade der Unter- und der Mittelschicht in den letzten Jahren verschlechtert haben. Dies hat Folge für den Einzelnen und die Gesellschaften. Vor 60 Jahren gab es in diesen Gebieten eine Verbesserung der Lebensumstände ohne die grundsätzliche Schieflage des Kapitalismus zu beseitigen. Auch heute gibt es Gebiete, wo sich im Kapitalismus die Lebensumstände zumindest der Mittelschicht verbessern (Südliches China, Indien, Teile von Afrika). Bei all der berechtigten Kritik am Ist-Zustand sollten auch die Entwicklungen beobachtet werden.

  2. Ich mag den »Presseblick«. Ich erlaube mir trotzdem ein paar kleine Anmerkungen.
    Man sollte sich von dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« trennen. Einfach aus dem Gedächtnis streichen. Er ist eine leere Floskel oder besser eine Tautologie. Es gab und gibt keine »soziale Gerechtigkeit«. Es gibt nicht einmal DIE Gerechtigkeit, ebensowenig wie DIE Wahrheit. Ein völlig subjektiver Begriff. Jeder Sklave wird eine andere Definition dafür verwenden als die Sklavenhalter. Geldbesitzer haben eine andere als Habenixe. Abhängig vom Rechtssystem wird sich die eine oder andere Ansicht durchsetzen. Ist das tatsächlich »gerecht«? Ein humanistischer Maßstab wäre die Gleichwertigkeit (nicht die Gleichheit) aller Menschen. Ein Denkansatz, welcher von Parteien und Politikern nicht verfolgt wird.

    »In Artikel 5 unseres Grundgesetzes...«
    Was haben Rechtssystem (inklusive Verfassungsgesetz) und Bibel gemeinsam? Sie waren und sind Regelwerke für Menschen und wurden nicht vom Volk geschrieben, sondern für das Volk. [Das obige Beispiel beschreibt es gut.] Ob es deshalb »unser/e« [Gundgesetz, Bundesregierung] ist, sollte man kritisch hinterfragen. Man könnte es [»unser«] anders ausdrücken. Immerhin ist es die rechtliche Basis dafür, dass eine Mehrheit von einer Minderheit in jeder Sekunde abgezockt wird und dafür, dass alles so ist wie es ist. Welche Mehrheit oder welches »Volk« würde diesen Zustand zu einem verbrieften Recht machen? Es muss schon ein sehr dämliches »Volk« sein oder es wurde nie wirklich dazu befragt.
    Man sollte sich deshalb nicht zu sehr mit diesem System gemein machen. Wenn man gedanklich Abstand gewonnen hat, was ich Dir, epikur, unterstelle, dann sollte man es vielleicht auch sprachlich deutlich machen.

  3. Ich stehe in Verbindung mit ihm, verstehe es ebenso mal gar nicht, aber er möchte sich mehr seinem Kind widmen und meint, das alles eh keinen Zweck hat und immer schlimmer werde und er einfach nur noch depressiver werden würde wenn er mit dem Bloggen weitermacht.
    Er wird aber weiterhin gezielte Aktionen gegen bestimmte Mitbürger seiner Umgebung fortsetzen weil er eben auch nicht anders könne, aber mit der Öffentlichkeit solle schluss sein...
    So , mehr weiß ich leider auch nicht...

  4. Ich werde den Kiezneurotiker sehr vermissen! Alleine die Artikel aus dem Borgwürfel....ich fand es immer irgendwie tröstlich, dass ich nicht der Einzige bin, der den Irrwitz kaum noch aushalten kann, aber trotzdem von (selbst verschuldeten) Zwängen festgehalten wird.

    Und ich habe im manchmal erfolgreich hinterher gegessen, wenn ich mal in Berlin war.

    Herzlichen Dank für die Show und ich wünsche ihm von Herzen, dass im das Leben trotz Allem gelingen möge.

  5. Zum »Kiezneurotiker«: ja, »rotzfrech« ist eine treffende Beschreibung. Im positiven Sinne. Sprachlich sehr »versiert«, da wurden alle Register gezogen. Und man hatte das Gefühl, der redet genauso wie er schreibt.

    Mich beschlich in der letzten Zeit allerdings das Gefühl, als ob da jemand anfängt, sich im Kreis zu drehen. Vielleicht hat er es ja selbst gemerkt und vielleicht war das ja der eigentliche Grund, weshalb er den Laden dicht gemacht hat. »So bringt das nichts mehr«.

    Seien wir mal ehrlich: War schon ein »zerrissenes Profil«, was er da hin gelegt hat. Den Blogwürfel aushalten um Kohle zu verdienen (und über ihn zu lästern) um dann mit dem verdienten Geld Restaurants, Konzert- und Kinoveranstaltungen besuchen (und über sie zu lästern) und sich die Kante zu geben um das Publikum auszuhalten. Den Kater mit Laufen oder mit anderen auf Laufveranstaltungen austreiben (und über sie zu lästern). Und wieder von vorn. Borgwürfel, abends ins Konzert usw. ...

    Als Blog-Thema musste sich das ja irgendwann abnutzen. Denke trotzdem gerne daran zurück.

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