-Offener Brief an alle TV-Stationen, Medien, Verlage, PR- und Werbeagenturen, die Unterhaltungsindustrie, an alle Klugscheißer und an die Politik-
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit fordere ich Sie auf, mich stets dumm, klein und unbedeutend zu halten! Bitte belügen und betrügen Sie mich! Ich möchte nichts wissen von politischen oder wirtschaftlichen Hintergründen, von geschichtlichen Ereignissen die verschwiegen werden, philosophischen Gedankenspielen, von Sprachverdrehungen, PR-Propaganda, Selbstzensur, ökonomischen Abhängigkeiten oder Interessenspolitik. Das alles interessiert mich einen Scheiss! Ich lebe nach dem Prinzip: mein Haus, mein Auto, meine Frau und mein Kind, meine Lohnarbeit, mein Fernseher, mein smartphone — und hinter mir die Sintflut.
Bitte verschonen Sie mich auch mit moralischer Verantwortlichkeit über weltweite Ausbeutung, Armut, Kriege, und Hungertote. Bitte unterlassen Sie jegliche Form von Aufklärung, die mir ein Unwohlsein oder Nachdenken abringen will. Ignorieren, verzerren und beschönigen Sie Sachverhalte und Ereignisse, die mein Weltbild beschädigen könnten. Versuchen Sie erst gar nicht meinen beschränkten, kleinbürgerlichen Spießerhorizont zu erweitern. Ich werde mich diesbezüglich niemals überzeugen lassen. Ich empfinde den Versuch, meine Realitätsfremdheit, meine Weltverleugnung und mein Menschenbild in Frage zu stellen, als einen gezielten Angriff auf meine Person. Wer meine Meinung kritisiert, wird von mir mit Vorwürfen und Missachtung gestraft werden.
Ich will eine Funktion ausfüllen, ohne erfüllt zu sein. Stets nur das machen, was von mir erwartet wird. Mich nur vorwärts im Kreis drehen. Unterhalten werden, ohne zu kommunizieren. Gefühle aufsaugen, Bilder fressen, ohne berührt zu werden. Kommunikation bedeutet für mich täglich stundenlang mit den Fingern über ein technisches Gerät zu wischen und zu tippen. Ich fordere Ablenkung, Bespaßung und Verdummung. Ich will den Fernseher einschalten und den Kopf abschalten. »Wieso, Weshalb, Warum« – Fragestellungen sowie »Was wäre wenn« – Vorschläge empfinde ich hierbei als anstrengend und humorlos. Es sei denn, mir erwachsen daraus persönliche Vorteile. Ich will mich amüsieren und lustig machen. Vorzugsweise über andere Menschen. Ich will Gewalt, Explosionen, einfache Zusammenhänge, Klischees und platt inszenierte Emotionen.
Bitte führen Sie diesbezüglich den Konsum von »Scripted Reality« – Formaten als tägliche, mindestens dreistündige Pflichtveranstaltung für jeden Bundesbürger ein. Nur so kann sicher gestellt werden, dass sich alle auf dem gleichen intellektuellen Niveau befinden. Mit Studenten, Klugscheißern, Besserwissern, Hobby-Psychologen, Möchtegern-Aufklärern, Kritikern und Pseudo-Intellektuellen möchte ich nichts zu tun haben! Sie alle wollen mir mein Entertainment-Paradies schlecht machen. Meinen mentalen Glas-Bunker mit Steinen bewerfen. Ihre negative Einstellung zerstört meine Wahrheit.
Liebe Medien, Politiker und Werbetreibende, Sie sind auf einem guten Weg uns alle restlos zu verdummen. Ich möchte Sie hiermit ermuntern, nicht nachzulassen, sondern mit vereinten Kräften dieses Ziel auch weiterhin zu verfolgen!
Hochachtungsvoll,
ein Medienzombie
Klasse – Robert Walsers Text »Basta!« reloaded: dort
lässt sich ein behäbiger Spießer über die unnötigen
Qualen des selbständigen Denken aus, das er sich
für seine Person verbittet und verbietet – basta!
»Ich möchte Sie hiermit ermuntern, nicht nach zu lassen, sondern...«
Man schreibt nachzulassen!
Bitte darum, mich nicht zu verdummen! :mad:
@Frank
Wurde natürlich sofort korrigiert! :)
Klug gehandelt! :euphorie:
Gewollte Dummheit hat offenbar auch eine anstrengende Seite , was man da so alles umgehen muß.
Ich sehe gerade im Feedreader, dass wir beide unsere Texte, die ja dieselbe Stoßrichtung haben, exakt in der gleichen Minute (6:13 Uhr) veröffentlicht haben. Spooky.
Ach ja: Gut geschrieben, Medienzombie, und danke für die Blogroll. :)
Deinem dithyrambischen Begehr kommen deine Adressaten doch nach Kräften nach; was gäbe es da noch zu perfektionieren!?
Das (der Marquise de Pompadour zugeschriebene) »après nous le déluge« entspricht dem Zeitgeist.