Die Bundesregierung hat heute ein neues Gesetz beschlossen. Demnach wird das Wort »hilflos« aus dem deutschen Wortschatz ersatzlos gestrichen werden. Führende Unternehmen, Minister und Wissenschaftler haben sich dafür ausgesprochen. Außerdem belege eine repräsentative Meinungsumfrage, dass es in Deutschland keine »hilflosen Menschen« geben würde. Jedem in Deutschland wird geholfen, sofern er bereit ist, sich zunächst selbst zu helfen. Wer dazu nicht in der Lage oder willens ist, der darf auch keine Hilfe erwarten. Solidarität ist Eigenverantwortung.
Armut ist keine Erscheinung der herrschenden Ökonomie — das hört man jeden Tag. Armut ist ein moralischer Makel, eine persönliche Fehlentscheidung. Man hätte sich ja auch entschließen können, einfach reich zu werden. Wer aber wenig entschlussfreudig ist, der landet eben, wo er landet, sei es in der Armut — wie kann man da von Hilflosigkeit sprechen?
Eine typische Orwellsche Verdrehung.
Selbstverständlich gibt es in Deutschland hilflose Menschen, das äußert sich nicht nur in Armut. Aber da die Verantwortung für die »Hilflosigkeit« den Hilflosen zugeordnet wird, kann sich der Staat aus der Hilfe verabschieden. Ein Paradebeispiel dafür sind die Tafeln. Wo Tafeln existieren, für die weite Verbreitung sorgen schon Organisationen wie McKinsey, braucht sich der Staat nicht mehr um die Hungrigen und Notleidenden zu kümmen. Wer nichts zu essen hat, der darf sich bei den Tafeln erniedrigen und um Almosen betteln. Das ist kein Sozialstaat mehr und verstößt sowohl gegen unser Grundgesetz wie auch gegen die Menschenwürde.
Für hungrige Banken hat dieser Staat Milliarden übrig, Geld, daß auch die Armen erwirtschaftet haben. Für Hilflose haben die Vertreter dieses Staates nur zynische Verachtung übrig, nein, sie machen durch die Tafeln auch noch ein gutes Geschäft (die spendenden Unternehmen können sich von der kostspieligen Beseitigung der Nahrungsmittel entlasten und die Reichen können mit ihren Spenden Steuern sparen).
Wenn mal wirklich den Menschen geholfen werden würde, die tatsächlich Hilfe brauchen, dann wären wir wohl ein Stück weiter. Es kommt nicht gut, wenn man ein schlechtes Gewissen gegenüber denjenigen haben muss, die sich über eine wirkliche Chance freuen würden. Wünsche Dir ein schönes (und für mich hoffentlich schmerzfreies) Wochenende
Eigenverantwortung ist Solidarität!
Passender Bahn-Neusprech dazu:
»Selbstrettung bedeutet immer Zivilcourage, die von jedem verlangt wird.«
http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/10/stuttgart-21-auf-dem-grill/
(Und wer im Brandfall freiwillig sich und seinen Rollstuhl eigenverantwortlich auf den Gleisen entsorgt, um die Selbstrettung der Gesunden nicht zu behindern, bekommt posthum den »Tanja-Gönner-Preis« für gesellschaftliches Engagement.)
Wer Hilfe braucht, ist also selber schuld?
In einem Alltag, der immer mehr zu einem Wettbewerb verkommt, gibt es nur noch Gewinner und Verlierer.
Die Jungen saugen heute das Wettbewerbsdenken mit jeder Minute TV auf.
Die Heraustilgung von Elementen eines Großzusammenhangs ist die Grundformel der Entfremdung. Im Falle der Hilfe wird die Entfremdung quadriert. Nicht nur ist der Arme grundsätzlich entfremdet, nämlich von einer würdigen Existenzfülle, er wird darin noch ein zweites mal entfremdet: von der Kenntnis der Ursachen seiner Armut.
Wir leiden im Grunde an einer narzistischen Verkehrung. Dieser fantasiert im Falle des Reichtums oder der Mittelständigkeit die meiste Zeit um die Manifestationen seiner psychophysischen Potenz. Er imaginiert sich im Handungsmodus wie eine große Lawine, die alles bewegen kann. Einen anderer Effekterzeugungsmodus kennt er nicht. Wer also keine Effekte erzeugt, muss nicht handeln wollen. Denn wer handelt, wie der narzistische Grossmeister, dem resultiert der Großeffekt. Vielleicht nicht so viel, aber immerhin genug für eine behäbige Mittelständigkeit.