In Zeiten von Massenentlassungen, Inflation und einer großen Wirtschaftskrise in Deutschland, kommt das Thema »Arbeitslosigkeit« wohl endlich auch in der Mittelschicht an. Wie dieses Millieu nun damit umgeht, zeigt exemplarisch der Beitrag von Clara Ott auf spiegel.de vom 17. Dezember 2024: »Meine zwölf Erkenntnisse aus drei Monaten Arbeitslosigkeit.«
Die 44-jährige Journalistin und Buchautorin gibt Handlungsempfehlungen und Verhaltenstipps für die Arbeitslosigkeit, ohne auch nur einmal den Lohnarbeitsfetisch in Deutschland kritisch zu beleuchten. Von einem analytischen, strukturellen oder gar politisch-ökonomischen Blick ganz zu schweigen.
Gehen wir ihre »zwölf Erkenntnisse« einmal durch.
»1.) Wenig verleiht dir mehr Leichtigkeit, als nachmittags zwischen Studentinnen und Rentnern schwimmen zu gehen, während dein Handy und deine Enttäuschungen im Spind liegen. So hältst du den Zustand aus, nicht erreichbar zu sein, wenn dich ohnehin niemand erreichen will.«
Schwimmen ist generell zu empfehlen. Unabhängig davon, ob man lohnarbeitet oder nicht. Leider wird das, besonders in der Großstadt, immer unbequemer. Schwimmbäder schließen, erhöhen massiv ihre Preise und sind teilweise und zu bestimmten Tages- und Wochenzeiten mit sehr anstrengenden Besuchern bevölkert.
»2.) Die meisten Freunde und früheren Arbeitskollegen werden dir sagen, dass sie dich um deine »Auszeit« beneiden. Zumindest alle, die deinen »Career break« mit ihrem Sabbatical verwechseln oder dem Bildungsurlaub in der Toskana. Du aber beneidest Menschen, die zur Arbeit gehen, jeden Montagmorgen. Sogar freitagnachmittags.«
Ich kenne kaum einen erwerbslosen Menschen, der Jemanden um seine Lohnarbeit beneidet. Es grenzt an Sklavenmoral, wenn man die Lohnarbeit, völlig losgelöst von Tätigkeit, Sinn und Zweck als individuelle Sinnstfitung proklamiert. So können nur Menschen reden, die keine prekären Tätigkeiten oder Bullshit-Jobs kennen. Es ist nicht die Lohnarbeit, auf die Arbeitslose neidisch sind, sondern höchstens die Bezahlung. Wobei selbst die überall immer schlechter wird.
»3.) Du lebst auf jedes Wochenende hin, weil du da tagsüber im Supermarkt oder beim Spazieren durch die Innenstadt wieder Teil der Masse sein darfst, die sich Bummeln verdient hat. Unter der Woche wirkst du wie ein Streuner, wie ein Tourist, nur ohne Einkaufstüten – weil du sparen musst.«
Jeder Lohnarbeiter in Deutschland, der nicht am Wochenende arbeiten muss, lebt ebenfalls auf das Wochenende hin. Wer unbedingt, unter allen Umständen und zu jedem Preis zum Rudel und zum Mainstream gehören will — wird niemals sein individuelles Glück im Leben finden können. Davon bin ich überzeugt.
»4.) Die freundlichen Mitarbeiter bei der Agentur für Arbeit werden deine Termine verschieben. Wenn du dich nach acht Wochen endlich vorstellen darfst, erzählen sie dir, wie überarbeitet und unterbesetzt sie sind und dass du niemals einen festen Ansprechpartner haben wirst. Kannst du Bewerbungen vorweisen, brauchst du dich erst in drei Monaten wieder vorzustellen. Und so befreiend sich das anfühlen wird, so sehr wünschst du dir eine Form der Kontrolle. Jemanden, der wie frühere Vorgesetzte schaut, ob du faul bist oder wenigstens bei Slack oder Teams aktiv. Jemanden, der »Na, wie läuft die Jobsuche?« fragt, der nicht mit dir befreundet ist.«
Die überwiegende Mehrheit aller Erwerbslosen haben massiv schlechte Erfahrungen mit der Agentur für Arbeit und mit dem Jobcenter gemacht (mich eingeschlossen). Willkür. Abwertung. Schikanen. Druck. Erniedrigungen. Die Beispiele und die Fälle vor den Sozialgerichten sind schier endlos. Es ist traurig und kein Beweis für eine demokratische Reife, wenn man sich zudem eine »Kontrolle« von einer staatlichen Behörde wünscht.
»5.) Du fühlst dich nicht einfach arbeitslos, denn dieser Zustand ist kein Gefühl, sondern reine Bürokratie. Du fühlst dich gesellschaftlich unnütz. Also stürzt du dich in privaten Aktionismus. Du lässt dir von der Rentenversicherung die gefürchtete Aufstellung aller Lücken schicken – und freust dich auf das Projekt »Ungeklärte Zeiten nachmelden«. Vielleicht ordnest du deine Finanzen oder wenigstens den Kram in all deine Schubladen. Am Ende des Tages fällt dir auf, dass du den ganzen Tag mit niemandem gesprochen hast.«
Wer sich selbst seit jeher nur über die Lohnarbeit und/oder über die entsprechende Vergütung definiert, bekommt spätestens im Rentenalter schwere Depressionen. Ehrenamt. Hobbys. Leidenschaften. Sie sind nach wie vor immens wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Sogar weitaus wichtiger als jede Lohnarbeit.
»6.) Freunde. Sie sind ein wichtiger Halt in Zeiten, in denen man ohne Team auskommen muss, ohne Titel, ohne Teil einer Firma zu sein, ohne Firmenweihnachtsfeier. Als Mensch ohne Kollegen wird einem der Wert von Freundschaft bewusst: Freunde sind Menschen, die dich auch ohne Job interessant finden.«
Traurig, wenn man erst in der Erwerbslosigkeit merkt, wie wichtig Freundschaften sind! Das liest sich sehr stark, als wenn Freunde in der Arbeitslosigkeit als Lückenbüßer herhalten dürfen, während man sie in der Lohnarbeits-Phase ständig mit »keine Zeit« vertröstet, weil man sich so wichtig und gebraucht von der Lohnarbeit (und vom Chef) fühlt.
»7.) Du darfst hemmungslos ausschlafen, aber lieber nur an vier von sieben Tagen. Meditation hilft, vor allem nach Albträumen. Täglich zwei längere Spaziergänge helfen, um fremde Mitmenschen zu sehen und mal ein Lächeln zu erhaschen. Deine Werktage verschwimmen, oft auch die Stunden. Welches Datum ist heute? Du brauchst Routinen im Alltag. Selbstliebe, Self-Care, nenne es, wie du willst, aber sei gut zu dir. Und lass dich nicht gehen.«
Zustimmung! Ein guter und vailder Punkt. In meinen Arbeitslos-Zeiten habe ich das selbst erlebt: der rasante Verfall von Selbstdisziplin und Tagesstruktur. Ich kenne und sehe das auch in meinem Umfeld. Auch hier können Hobbys, Leidenschaften und Ehrenamt helfen, nicht in Apathie zu verfallen.
»8.) Mach jeden Montag Pläne und Verabredungen oder wenigstens To-do-Listen. Als Arbeitsloser hast du theoretisch Zeit für alles, was im hektischen Arbeitsalltag immer Stress bedeutete: Endlich kannst du mittwochs zu Ikea (leider musst du sparen und kannst diesmal wirklich nur Teelichte kaufen). Endlich kannst du zur Reinigung mit den komischen Öffnungszeiten. Endlich machst du den überfälligen Termin bei der Krebsvorsorge. Du hast Zeit, deine Eltern oder Geschwister anzurufen oder andere Menschen, die dich lieben, ohne dich zu stressen, weil du – aus welchen Gründen auch immer – gerade keinen Arbeitsplatz hast.«
Die vermeintlich endlos zur Verfügung stehende Zeit kann schnell dazu führen, am Ende gar nichts mehr zu machen. Deshalb ja, die eigene Selbstdisziplin nicht vernachlässigen. Die sollte man aber bestenfalls so oder so haben: mit und ohne Lohnarbeit.
»9.) Körperpflege. Lebe so, als würdest du aktiver Arbeitnehmer sein und kein stillgelegter. Maniküre, Haarwäsche, Lieblingsduft, für den Weg zur Post. Tu alles, damit du dich weiter gepflegt und attraktiv findest. Wohlfühlklamotten sind okay, Hauptsache, du trägst deine Würde.«
Das ist hart und trägt nur zum Vorurteil bei, dass Arbeitslose ungepflegte Penner seien. Frei nach Kurt Beck: »waschen und rasieren, dann finden Sie auch einen Job!« Darüber hinaus sollte die Menschenwürde nicht mit vermeintlich schlechter oder ungepflegter Kleidung enden.
»10:) Bücher lesen. Sachbücher, Romane, egal.«
»Egal« würde ich jetzt nicht sagen. Es gibt schon richtig viel mental-geistige Verblödung und Vergiftung da draußen. Ich empfehle Adorno, Erich Fromm, Gustave Le Bon, Edward Bernays, George Orwell, B. Traven, Noam Chomsky, Kurt Tucholsky, Aldous Huxley, Franz Kafka und ‑seit 2020 sehr wichtig- das Grundgesetz.
»11.) Nicht in Selbsthass verfallen, wenn du diese »Auszeit« nicht »sinnvoll« dafür nutzt, endlich mal deine Romanideen zu brauchbaren Exposés umzuarbeiten oder dich beruflich weiterzubilden. Lies deine alten Arbeitszeugnisse durch. Sei stolz auf Krisen, die du überwunden hast. Auch das hier ist nur eine Phase.«
Womit wir wieder bei Punkt 5 wären: das Selbstbewusstsein und der Selbstwert werden primär durch die Lohnarbeit und den eigenen Sozial Status definiert. Das ist meines Erachtens das Grundproblem von Millionen von Menschen in Deutschland. Daraus resultieren viele Probleme und Krankheiten. Das gilt es zu überwinden. Aber ja, daran klebt die Mittelschicht, wie Ameisen am Honig.
»12.) Bewerben, Netzwerken. Du wirst in Video-Calls deine Vita herunterrattern, vielleicht wirst du sogar zum Bewerbungsgespräch in eine andere Stadt eingeladen. Du wirst Wochen auf Rückmeldungen warten. Es wird Absagen geben. »Wir haben uns nicht gegen dich, sondern nur für jemand anderes entschieden«, Sätze, die dich an die »Es liegt nicht an dir«-Datingfloskel erinnern. Du wirst Copy-&-Paste-Absage-Mails erhalten, inklusive verschiedener Schriftarten. Jede Absage nimmt dich mit, sogar die von Jobs, die du gar nicht wolltest. Du haderst mit deinen Fähigkeiten; deinem Talent, dich gut zu verkaufen. Aber jede Absage kann auch eine Befreiung von einem faulen Kompromiss sein. Vertraue darauf, dass dir in der Zukunft jemand einen Arbeitsvertrag anbieten wird, in dem dein Wert erkannt wird – als Arbeitnehmer, aber auch als Mensch.«
Diese Arbeitsfetisch-Moralisierung zeigt mir, dass am Ende überhaupt nichts kritisch hinterfragt, sondern nur die eigene Arbeitslosigkeit emotional bejammert wurde. Als »Arbeitnehmer« bist du nur solange »wertvoll«, wie du deine Arbeitskraft nützlich und verwertbar in das Unternehmen einbringen kannst. Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit bedeuten, sich mit all seinen Stärken, Schwächen, Interessen und Zielen einbringen zu können. Wo gibt es das bitte in der Lohnarbeitswelt?
Jeder Charakterzug, der womöglich ein wichtiger Teil deiner Persönlichkeit ist, aber für das Unternehmen nicht benötigt ‑ja, sogar als schädlich definiert wird- will man nicht haben. Das wird weggeschoben und wegrationalisiert. Alles Andere ist »Personalführung« und eine permanente Illusion von »Nähe und Menschlichkeit«. Alles dafür da, um Arbeitsprozesse zu optimieren und um die Effizienz zu steigern. Hört endlich auf mit der völlig überzogenen Romantisierung von Lohnarbeit!
Fazit: Frau Ott beschreibt die Arbeitslosigkeit generell als einen Zustand von »gesellschaftlicher Nutzlosigkeit«. Damit redet sie ‑bewusst oder unbewusst- dem neoliberalen Menschenbild das Wort. Menschen hätten nicht an sich einen »Wert«, sondern nur, wenn sie für einen Profit- und Verwertungsstreben nützlich sind. Anstatt also dieser Haltung und diesem Menschenbild argumentativ etwas entgegenzusetzen — wird das akzeptiert und verinnerlicht.
Die Phase der Arbeitslosigkeit kann und sollte auch eine Zeit sein, in der man sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben besinnt. Und das ist und bleibt niemals die Lohnarbeit, sondern Familie, Freunde, Hobbys, Leidenschaften, Kultur, Sport, Natur und Mitmenschlichkeit.
»Aber mein Chef braucht mich!«
Über den gemeinen Erwerbslosen
»Der tägliche Lohnarbeitswahnnsinn 1–15«
Mich hat der nette Mann bei der jährlichen Abgabe meines Antrages, zur Erneuerung der Bewilligung der Arbeitslosenhilfe gefragt, ob ich häufig wechselten Geschlechtsverkehr hätte.
Das ging dann so.
Ich kam zum angegebenen Termin 8 Uhr, ausschließlich und nur zur Abgabe meines schon ausgefüllten Antrages in der Außenstelle des Arbeitsamtes in der Fischerfeldstr.
Das dauert im Regelfall nicht mehr als 2 Minuten.
Ich klopfte, »herein«, trat ein, nahm auf dem billigen Küchenstuhl aus Holz platz.
Der Typ, um die 50 schütteres Haar typischer Bürokrat, Brille, eher unauffällige Gesamterscheinung fragte sogleich, Stevenson, Mike...Geboren am 6.6.60?
Wohnhaft, Schloßallee 2...stimmt das ?
Arbeitslos, seit 1985 Keine Nebeneinkünfte? Richtig??
Haben sie »häufig wechselten Geschlechtsverkehr«????
Noch weitere Fragen?
Der Artikel von Frau Ott ist doch nur ein aktueller Remix der entsprechenden alten Spiegelartikel. Vermutlich stammt das Original aus den 80ern.
Der Vorteil eines alten Presseorgans ist stets, dass man das Rad nicht neu erfinden muss, denn fast jede Krise hat es so schon mal gegeben.
Das ist wie mit den Zeitungsenten. »Mann mit Penis im Kugellager wurde von mutigem Feuerwehrmann mit Schneidbrenner gerettet.« Gibt es so seit den 70ern und wird reihum von allen Gazetten je nach Bedarf geremixt
»Wir haben uns nicht gegen dich, sondern nur für jemand anderes entschieden«
Erinnert mich an jenen Wendepunkt vor vielen Jahren, als ich im Supermarkt das letzte Mal einen SPEIGEL kaufen¹ wollte, aber kaum war meine Hand nur noch wenige Zentimeter von der ›Mittelschichten-BILD am Montag‹ entfernt, meldete sich die bessere Hälfte meines Gehirns:
Stopp! Lohnt sich nicht! Besser² Seife, Rasierwasser und Kondome in den Einkaufswagen legen und die Kassiererin anstrahlen wie vom Testosteron-Überschuss gebissen!
Und so ist es geblieben, nur dass ich statt des SPEIGELS heute lieber Melissengeist³ und Gebissreiniger kaufe.
Zur Sicherheit, falls es jemand noch nicht kennt, das ultimative Zitat zum Thema:
Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück [Gottfried Benn].
¹Eignet sich angeblich(!) schlecht zum Ladendiebstahl
²Machte damals einen Rest von Sinn
³Selbstverständlich ausschließlich zur äußerlichen Anwendung
Ich setze Harald Juhnke dagegen. Meine Definition von Glück: Keine Termine und leicht einen Sitzen.
Paßt ja auf Arbeitlose, nech, jedenfalls laut Staatsmedien.