Menschelnde Jobcenter

(fotografiert am 28. Februar 2024 in einem Berliner U‑Bahnhof)

Ich war in meinen über 40 Jahren schon einige Male arbeitslos. Während ich die Phasen nicht als »schlimm« oder »unproduktiv« angesehen habe, da endlich ausreichend Zeit für Familie, Freunde, Hobbys, Leidenschaften und ZG-Blog vorhanden war — wurde mir natürlich von allen Seiten Druck und ein schlechtes Gewissen gemacht. Die Diskriminierung, gegenüber arbeitslosen Menschen in Deutschland, ist gesellschaftlich, politisch und medial fest verankert. Jeder, der einmal länger arbeitslos war, weiß das.

Die Jobcenter wurden im Zuge der »Agenda 2010« von der Schröder-Regierung sowie dem vorbestraften VW-Personaler Peter Hartz im Jahr 2005 ins Leben gerufen. Das Ziel war von Anfang an, nicht die Interessen oder gar die Bedürfnisse der arbeitslosen Menschen ernst zu nehmen oder zu berücksichtigen — sondern sie in den Niedriglohnsektor zu drücken. Mit aller Gewalt.


»Sozial ist, was Arbeit schafft!«
Es ist abstoßend und realitätsfremd, dass sich ausgerechnet die Jobcenter mit einer PR-Kampagne nun ein »menschliches Gesicht« geben wollen. Es passt zwar hervorragend in die aktuelle postfaktische Realität, bei der moralische Befindlichkeiten und gefühlte Wahrheiten mehr zählen (sollen), als Fakten, Erfahrung und Argumente — aber gerade die Jobcenter sind für millionenfaches Leid verantwortlich. Total-Sanktionen bis zur Obdachlosigkeit. Psychoterror gegenüber ihren »Kunden«. Zwang. Willkür. Druck. Schikane. Massenverelendung. Die Liste ist endlos.

Im Forum von hartz.info kann jeder sehen, wie »menschlich« die Jobcenter mit ihren »Kunden« umgehen. Die anekdotische Evidenz ist derart erdrückend, dass nur Menschen, die noch nie mit einem Jobcenter-Mitarbeiter Kontakt hatten, die typischen empathiebefreiten Vorwürfe erheben: arbeitslose Menschen seien faule Sozialschmarotzer, die gar nicht arbeiten wollen.

Der häufigste Vorwurf, der immer wieder von Politik und Medien vorgebracht wird, ist jedoch, dass die Erwerbslosen alle selbst schuld seien: »Jeder, der arbeiten will, findet auch Arbeit!« Klar. Lohndrücker-Jobs, bei denen man maximal ausgebeutet wird. Aber Hauptsache Arbeit!

»Es gibt kein Recht auf Faulheit! Nach Ansicht des Bundeskanzlers gehen die Arbeitsämter viel zu zimperlich mit den Arbeitslosen um, die bereits einen Job abgelehnt haben.«

- Gerhard Schröder im April 2001

Oder ganz aktuell:

»Im Saale-Orla-Kreis möchte Landrat Christian Herrgott (CDU) Geflüchtete zum Arbeiten verpflichten – für 80 Cent pro Stunde. Dadurch wolle er den Menschen eine geregelte Tagesstruktur schaffen.«

- tagesspiegel.de vom 28. Februar 2024


»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!«
Viele haben vermutlich schon wieder vergessen, dass Politik, Medien und Gesellschaft, bevor sie auf Ungeimpfte, Klimaleugner, Putinversteher, Querdenker, Antisemiten, Flüchtlinge und vermeintliche Nazis, geschimpft haben, die Arbeitslosen tagtäglich niedergemacht wurden. Hetz- und Schmutzkampagnen gegen Menschen, die sowieso schon am Existenzminimum leben, waren an der Tagesordnung. Spiegel, BILD, Welt, Zeit, ARD/ZDF, Focus, Süddeutsche usw. — alle haben mitgemacht. Der Deutsche braucht ganz offensichtlich immer Jemanden, den er runterputzen kann, um sich besser zu fühlen. Vorzugsweise Menschen, denen es noch schlechter geht.

In Berlin leben fast 500.000 Menschen von »Hartz 4«. »Arbeitslosengeld 2« sowie »Bürgergeld« sind Euphemismen, die dem Jobcenter-Alltag kaum gerecht werden. Bis heute ist ihnen der Name »Hartz4« eher peinlich, weil er an den vorbestraften VW-Personaler Peter Hartz und seine primären »Wirtschaftsinteressen« erinnert.

Wer sich als »Hartz4-Empfänger« weigert, einen mies bezahlten »Job« anzunehmen, wird mit allen Mitteln und Methoden dazu genötigt und gezwungen: »Er gehe von rund zehn Prozent Leistungsbeziehern aus, die zumutbare Arbeit ablehnten und mit Sanktionen belegt werden müssten, sagt der Jobcenter-Mitarbeiter.« Nach § 140 SGB III ist die »Zumutbarkeit« so geregelt:

  • Tätigkeiten, die mehr als 30 Prozent unter dem tariflichen Arbeitsentgelt liegen, gelten als »unzumutbar«.
  • Ab dem siebten Monat der Arbeitslosigkeit ist jede Beschäftigung zumutbar, deren Nettoeinkommen abzüglich der Werbungskosten nicht niedriger als das Arbeitslosengeld ist.
  • Die Bestimmung kennt keinen Berufsschutz. Die berufliche Qualifikation fließt nur insoweit in die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung ein, als sie sich in dem Entgelt widerspiegelt.

Insbesondere den letzten Punkt durfte ich hautnah miterleben. Diplom-Studium gerade abgeschlossen und gleich mal vom Jobcenter via Sanktionsandrohung zur Callcenter-Klitsche verdonnert worden. So werden Menschen in Deutschland entqualifiziert:

»Der Herr im Jobcenter – mein Arbeitsvermittler – schüttelt mir freundlich-abwartend die Hand. Möglicherweise ist er etwas nervös angesichts meines Doktortitels, den er auch sofort pflichtschuldig ausspricht. Er weiß, dass er mir außer Zwangsmaßnahmen, Callcenter und Saisonarbeit (Erdbeeren pflücken) nichts zu bieten hat

- Britta Ohm in den »Blättern« vom August 2016


(fotografiert am 28. Februar 2024 in einem Berliner U‑Bahnhof)

Fazit
Aber hey, all das, ist Angesichts der neuen Berliner Image-Kampagne, Schnee von gestern. Ab jetzt wird gemenschelt. Auch das fast jede zweite Klage gegen die Jobcenter gewonnen werden, spielt keine Rolle. Dort arbeiten kompetente, empathische und humanistisch geprägte Menschen. Die Nestbeschmutzerin ehemalige Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann hat übrigens ein wenig vom Alltag in den Jobcentern erzählt. Ergebnis: alles ganz ganz toll. Dort in den Jobcentern. Der schlechte Ruf ist absolut unverdient! Oder anders ausgedrückt:

»Ich bin überzeugt davon, dass die Kampagne uns dabei helfen kann, in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen zu werden.«

- Elena Zavlaris, Geschäftsführerin Jobcenter Tempelhof-Schöneberg (Berlin)

Ich befürchte, sie glaubt das wirklich.


Über den gemeinen Erwerbslosen

12 Gedanken zu “Menschelnde Jobcenter

  1. @PV

    Mag ja sein. Deshalb kann sie trotzdem in anderen Themen einen Punkt haben. Deine »ganz oder gar nicht« — Einstellung führt am Ende auch in den Totalitarismus.

  2. Ein Euphemismus, der schon alles sagt:

    Human Resources

    Neusprech vom Feinsten, an den wir uns schon lange gewöhnt haben.

    Der Spruch, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen, stammt meines Wissens nach von August Bebel, einem Sozen der ersten Stunde. Da bewahrheitet sich die Mutmassung, dass nur die Sozen selbst den Sozialstaat zerlegen konnten.

    Mittlerweilen fällt das gar niemandem mehr auf, die Leute sind beruhigt, wenn ›Hartz IV‹ heute ›Bürgergeld‹ heisst. Gleicher Inhalt, andere Verpackung — solche Tricksereien funktionieren ganz wunderbar, und die Compliancescheisse wie diese beiden Banner vom Jobcenter erledigt den Rest.

    Solange noch die Illusion aufrecht erhalten werden kann, dass wir, die Bürger, die bestimmende Grösse im Lande seien, auch wenn dem faktisch längst nicht mehr so ist, scheint das einem erheblichen Anteil der Bevölkerung doch auszureichen.

    Das ist zwar schon relativ lange so, aber bis vor einigen Jahren war es zumindest noch so, dass seitens der Machtelite eine gewisse Zurückhaltung geübt wurde, weil man wohl befürchtete, dass ein zu übergriffiges und selbstbereicherndes Verhalten nicht goutiert werden würde.

    Dahingehend haben mittlerweilen alle jegliche Skrupel fallen lassen — und merken nun: es geht! Die Leute tolerieren es, wenn man ihn ständig rotzfrech ins Gesicht lügt, egal wie offensichtlich die Lügen sind.

    Da kommt man wirklich nicht mehr aus dem Staunen heraus.

    Deswegen brauchen wir auch all die dichotomen Weltbilder und die dazu passenden Erklärmuster. Für sich genommen, ist das nicht wirklich neu. Das eigentlich Erschreckende ist, dass es auch heute, im Jahr 2024, wieder möglich ist, ganze Gesellschaften auf diese Weise auf Linie zu bringen.

  3. @epikur

    Deshalb kann sie trotzdem in anderen Themen einen Punkt haben.

    Nimm’s mir bitte nicht übel, aber im deutschen hat man keinen Punkt. Man »hat irgendwie recht« oder »hat nicht ganz unrecht« oder ggf. »ist etwas dran« an einer Sache. Nur »einen Punkt haben« tut man nicht. Also, außer nach dem Zimmeranstreichen auf der Nasenspitze vielleicht... ;-)

  4. Möcht ich in der Pauschalität so nicht sagen, aber insgesamt sind mir in den letzten Jahren aus dem deutschen Zirkus nur wenig Leute aufgefallen, die sich etwas vielschichtiger präsentiert hätten.

    Natürlich sollte man Frau Hannemann nicht gleich als verbrannt betrachten, ’nur‹ weil sie da mit der Zero-Covid Story aufs falsche Gleis abgebogen ist.

    Aber ja, es hinterlässt dennoch einen merkwürdigen Eindruck, weil man eine solche kleingeistige Haltung bei jemandem wie ihr nicht erwartet hätte. Das ist bei der Covid-Story ohnehin mit das Erschütternste: wieviele dort mit unmöglichem bis hin zu unerträglichem Stuss in Erscheinung getreten sind, bei denen man aufgrund ihres Hintergrunds so viel Unsinn niemals erwartet hätte.

    Da denke ich schon, dass das nur deswegen so gut geklappt hat, weil es um eine ›Gesundheitskrise‹ gegangen ist. Wir müssen dabei immer berücksichtigen, dass die eigene Gesundheit ein persönlicher ›Wettbewerbsvorteil‹ im Sinne der neoliberalen Agenda ist, den viele nicht aufs Spiel setzen wollen.

    Natürlich war diese Krise ein riesiger Fake, aber wie ich an anderer Stelle schon geschrieben habe, wecken gerade gesundheitliche Bedrohungen, egal wie irrational die auch sein mögen, auf ganz leichte Art die inneren Angstmechanismen. Das geht viel einfacher als mit der über Jahre hinweg praktizierten Terrorpanik, die sicherlich auch Verunsicherung gestiftet und dem Gesetzgeber in vielerlei Belangen freie Willkür gewährt hatte — aber eine regelrechte Massenpanik wie während Covid war damit nicht realisierbar — und das liegt in der Natur der Bedrohung selbst.

    Opfer eines Terroranschlages zu werden, ist eine wesentlich abstraktere Bedrohung als die Vorstellung, an einem schweren Atemwegsinfekt zu versterben. Dort hat man die Leute wirklich an einem ganz verletzlichen Teil ihrer Persönlichkeit genudget.

    Eigentlich ist das Verhalten, welches wir von vielen Leuten, die wir für intellektuell begabt und als selbstbestimmte Wesen wahrgenommen hatten, die sich dann aber mit der Viruspanik völlig ins Narrativ einfügten, nicht so überraschend wie es scheint, solange man den Fokus auf der psychologischen Ebene behält.

    Deswegen sehe ich es auch eher wie Epikur und versuche mich in Nachsicht, wenn ich Frau Hannemanns soziales Engagement von ihrer Haltung zu Covid trenne.

    Aber klar begeben wir uns dabei auch immer tiefer ein Zuviel der Nachsicht, ein Zuviel des Verständnisses, welches in der Form gerade gegenüber von Leuten, bei denen man voraussetzen kann, dass gerade sie intellektuell imstande gewesen sein müssten, diese hochgradig manipulative Panikmache zu durchschauen, nicht so weit führen darf, dass man es als beliebig entschuldbare Verirrung kleinredet.

    Aber wenn das Mea culpa ausbleibt, ist es fragwürdig, ob es etwas ändern würde, forderte man das Bekenntnis anderweitig ein, jedenfalls nicht bei Personen, die nicht massgeblich in legislativer, exekutiver oder judikativer Funktion waren.
    Dort könnte man am ehesten der Weg einer Versöhnungskommission gehen.

    Bei den anderen hingegen kann es wirklich nur noch eine konsequente strafrechtliche Aufarbeitung geben.
    Was nicht passieren wird, wie wir alle wissen.

    Vielleicht reisst Putin noch was in dieser Hinsicht:

    https://twitter.com/WagenMehr/status/1765049738301210813

    dann können wir hoffentlich alle in den Teil, wo es diesen ganzen Schwachsinn nicht gibt

  5. Zustimmung zum sehr guten Artikel.
    Ein Gesetz das nach einem Vorbestraften benannt ist, ein schönes Symbol...
    Schröder hatte seinerzeit ein fieses Grinsen im Gesicht, als er die Hartz-Gesetzte verkündete, und hat die Worte des krummen Hundts nachgeplappert, damals Arbeitgeberpräsident, »es werden einige das Heulen und Zähneklappern kriegen«.
    Aufschlußreich was aus Schröder geworden ist. Es wäre ja vielleicht gar nicht so schlecht wenn hier einer einen guten Draht zu Putin hätte, ob er viel Einfluss ausüben könnte, bliebe dahingestellt.
    Aber so weit kommt es gar nicht- Schröder hat zwar immer mordsmäßig angegeben mit seiner Verbindung, aber es zeigt sich jetzt gnadenlos was für ein Würstchen Schröder tatsächlich ist.
    Auch hier versagt er auf ganzer Ebene, denn er hatte sich eben immer nur lieb Kind gemacht und angebiedert, und solche Leute werden vielleicht nett behandelt, erwerben aber nie den Respekt wie ihn etwa ein »Ben Wisch« hatte in der arabischen Welt.
    Ein erbärmliches aber passendes Ende des niederträchtigsten Kanzlers den wir je hatten.

  6. »Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen« wurde so von Müntefering am Lautesten propagiert.

    »Rasieren Sie sich und waschen Sie sich mal. Dann klappt es vielleicht auch mit einem Job.« meinte einst ein gewisser Beck zu einem späteren MTV-Moderator.

  7. Da menschelt gar nichts. Kompentenzeln noch weniger. Das war schon vor 30 Jahren so, was soll man heute besser machen, hat man doch die Elite der Ideologen und Scheinschlauen überall sitzen.

  8. https://www.telepolis.de/features/Sozial-ist-was-sozial-ist-3812537.html

    auszug aus diesem telepolis-artikel von september 2017:

    »Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und Unterstützer von Adolf Hitler, sagte am 31. Juli 1932 in einer Rundfunkansprache zur Reichstagswahl: »Gesunde Wirtschaft bedeutet heute vor allem Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Derjenige ist wirklich und wahrhaft sozial, der Arbeit schafft.«

    »Der Hugenberg-Konzern kontrollierte damals die Hälfte der deutschen Presse und trug maßgeblich zum Aufstieg der NSDAP bei. Nach der Machtergreifung der Nazis wurde Hugenberg kurzfristig Hitlers Wirtschaftsminister. Noch bei der Reichstagswahl im März 1933 verbreitete Hugenberg die Parole: »Sozial ist, wer Arbeit schafft.« «

    mein kommentar:
    jo...und WIRKLICHE naziparolen bleiben WIRKLICHE naziparolen!
    wie ’32 und ff., so auch nach dem untergang ’45 und bis heute.
    und weiterhin auch auf alle zeit!

  9. @Sascha

    Wie gesagt: postfaktisch. Es genügt ja, wenn es den »Anschein« bzw. den »Anstrich« des Menschelns bekommt. Es ist doch schon lange nicht mehr wichtig, wie sich Sachverhalte wirklich, also im Alltag verhalten — sondern wie sie »kommuniziert« werden. Genau das wird doch auch immer wieder als großes Problem der Politik diagnostiziert: das »Vermittlungs- bzw Kommunikationsproblem«.

    Die gestiegene Armut, die explodierenden Preise bei Mieten, Energie und Lebensmittel, die reale Kriegsgefahr usw. — all das muss nur »besser kommuniziert« werden. Dann geht es den Menschen schon besser. Frag mal die Journalisten im ÖRR. Die denken das wirklich.

  10. Die CDU möchte wieder verstärkt nach unten treten:

    »Die CDU-Spitze um Parteichef Friedrich Merz will das Bürgergeld in seiner jetzigen Form abschaffen und mutmaßlichen Arbeitsverweigerern das Existenzminimum ganz streichen

    Die Jobcenter-Mitarbeiter werden das natürlich, ohne mit der Wimper zu zucken, umsetzen. Sie sind eben Humanisten durch und durch. Das zeigt doch die Kampagne oben.

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