Eigenverantwortung Reloaded

Der gute Erwin kommentiert den Vortrag eines Psychologen, der analysiert haben will, warum unsere heutige Jugend so unzufrieden und unglücklich sei. Das liegt natürlich nicht an hohen Mietpreisen, schlechten Löhnen, Armutsrenten, miesen Arbeitsbedingungen, Inflation, C‑Terror, Medienlügen oder einer gezielten Atomisierung und Spaltung der Gesellschaft. Nicht doch. Nein! Jeder sei doch seines Glückes Schmied, soll mal nicht so ein »Opfer« sein, mehr Eigenverantwortung zeigen, weniger narzisstisch sein und Resilienz aufbauen, so der Psychologe.

Diese neoliberale Propaganda ‑die jedwede strukturell bedingte Ungerechtigkeit, welche die Menschen immer mehr unter Druck setzen, erbost von sich weist und alles zu einer »individuellen Entscheidung« machen will- hören und lesen wir überall. Seit Jahrzehnten. Nicht wenige Psychologen fungieren hier als Stützpfeiler dieser Erzählung. Jeder zweite Irgendwas-Coach arbeitet mit der »Eigenverantwortungsformel«, negiert gesellschaftliche Zustände sowie strukturelle Gewalten (oder degradiert sie als Randerscheinung) und zementiert damit Fatalismus und Resignation.

Natürlich ist »die Gesellschaft« auch nicht für alles verantwortlich und der Aufbau von Resilienz, Mut und Verantwortungs- sowie Selbstbewusstsein ist generell zu begrüßen. Es gibt hier kein Entweder Oder, sondern ein Sowohl als Auch. Kritisch wird es aber, wenn insbesondere Psychologen, Coacher oder Ausbilder gar keine gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sozioökonomischen Ursachen mehr sehen, sondern alles zu einem individuellen Problem machen wollen.


»Resilienz«
»Mehr Eigenverantwortung wagen!«

9 Gedanken zu “Eigenverantwortung Reloaded

  1. Ich halte Eigenverantwortung auch für ein grundsätzliches und wichtige Grundsatz der Gesellschaft. Nicht der Staat ist für das Leben und die Gesundheit der Menschen verantwortlich. Aber er muss natürlich die Rahmenbedingungen anbieten, dass für jeden Beteiligten ein Macht- und Interessenausgleich möglich ist. Und genau bei diesem Punkt ist linke Politik im Moment am versagen. Denn deren Fokusierung auf Barmherzigkeit und »die Armen« (oder wie auch immer ausgebeuteten) führt hier dazu, dass der Staat diesen helfen soll und damit die Abhängigkeit erhöht wird ohne das die Machtverhältnisse berührt werden. Im gegenteil, langfristig führt das dazu, dass der Staat immer stärker Strukturen schafft, die das oben und unten manifestieren und letztlich in ein Beherrschungsinstrument verwandeln. Wenn wir alle vom »bedingungslosen« Grundeinkommen abhängig sind, möchte ich die Leute sehen die gegen den Staat protestieren.

  2. Ich kann das »Jeder kann alles erreichen, wenn er es nur will« und vor allem »Bezahl mich und ich zeig dir wie’s geht« auch nicht mehr hören. Das ist für mich die Negation der biologischen Evolution des Menschen schlechthin.
    Die Existenz eines Menschen ist von so vielen von ihm individuell unbeeinflußbaren Faktoren, die das ganze Leben prägen, abhängig. Das geht schon damit los, dass man sich Mutter und Vater nicht aussuchen oder später einfach ändern kann. Und was man von denen bei der Genlotterie mitbekommt auch nicht. Wie sich die Mutter während der Schwangerschaft und als primäre Bezugsperson nach der Geburt und wichtigster Lehrmeister der ersten Lebensjahre verhält auch nicht. Und dann sind Menschen als Erwachsene ja auch keine Sibirische Tiger, die in 50km Umkreis keine gleichgeschlechtlichen Artgenossen dulden, sondern als hochsoziale Spezies extrem auf die Kooperation untereinander angewiesen. Aber nicht jeder Artgenosse meint es gut mit einem um für sich einen Konkurrenzvorteil zu erlangen. Denn auch in jeder Generation wird gnadenlos ausgesiebt, wer sich fortpflanzt und wer nicht. Und dann können es ganz idiotische Zufälle sein, die das ganze weitere Leben bestimmen. Das können schon ein bestimmter Zeitpunkt und ein bestimmter Ort zwischen Wohl oder Wehe oder ganz generell welche Richtung ein Leben nimmt entscheiden. Und das Schlimmste daran: wenn man es — wenn überhaupt — merkt ist es meistens zu spät daran noch etwas zu ändern.

  3. Ich bin bei dem Thema doch zwiegespalten, aber auch aufgrund eigener Erfahrungen. Einerseits hat Ervin recht, aber die Schelte über die Gen Z kommt ja nicht von nichts. Die moderaten Töne gehen dabei immer unter, und das stört mich massiv.

    Warum müssen wir immer unser gesellschaftliches Moralpendel von einem Extrem ins andere schwingen lassen und verlieren uns in irgendwelchen grenzwertig radikalen Ansichten? Um die Jahrtausendwende hat man »Eigenverantwortung« noch sehr überstrapaziert, heute denkt man in Gefilden eines Nannystaates und verzichtet gleich ganz auf Freiheitsansprüche.

    Ich bin ein Verfechter der Maxime »Hilfe zur Selbsthilfe« und verstehe einfach nicht, dass man das nur als Schubser so vorlebt und lässt dann alle ohne Nachbetrachtung so laufen. Umgekehrt brauchen wir keinen Helikopterstaat, der uns ständig auf den Hacken steht.

  4. @Sascha

    »Warum müssen wir immer unser gesellschaftliches Moralpendel von einem Extrem ins andere schwingen lassen und verlieren uns in irgendwelchen grenzwertig radikalen Ansichten?«

    Ich habe da an anderer Stelle (hier und hier) schon mal eine These entwickelt. Ich vermute, dass die binäre Wahrnehmung sehr stark mit dem »digitalen Zeitalter« zu tun hat. SEO, Algorithmen, Google, Datenverarbeitung etc. brauchen die 0 und die 1.

    Deshalb wird ständig versucht alles in schwarz oder weiß, in »dafür« oder »dagegen« zu framen. Mit Zwischentönen, Ironie oder einer differenzierten Analyse ist (noch) jedes Tool und jede KI überfordert. Auch ein »Sowohl als Auch« bzw. eine Nicht-Positionierung gehen gar nicht.

    Vielleicht schreibe ich dazu noch mal was, weil das wirklich immer schlimmer wird.

  5. Ich denke nicht, dass das spezifisch für das digitale Zeitalter ist. Früher galt auch schon: entweder gläubig oder Ketzer. Nur der Scheiterhaufen ist nicht mehr real sondern virtuell.
    Es geht einerseits um Macht und andererseits auf der Suche nach Orientierung im Leben geistig anstrengungslos dem Dogma irgendeiner Ideologie hinterher zu dackeln. Nachdenken und kritisch hinterfragen ist anstrengend und kostet Zeit und Energie. Und in der Hinsicht läuft bei den meisten Menschen das evolutiv bewährte Zeit- und Energiesparprogramm. Gleichzeitig kann es — auch evolutiv bedingt, weil früher Ressourcen knapp waren und nie klar war wann es wieder was gibt — von allem nicht genug geben: immer mehr, immer mehr, auch und gerade bei Frauen, die mitunter schwer unter dem MORE-Syndrom leiden (siehe das Märchen »Vom Fischer und seiner Frau«). Und wenn man beides verstanden hat, weiß man warum sich Spam lohnt — also für den der es macht.

  6. @epikur und orinoco

    »Ich vermute, dass die binäre Wahrnehmung sehr stark mit dem »digitalen Zeitalter« zu tun hat.«

    »Ich denke nicht, dass das spezifisch für das digitale Zeitalter ist.«

    An beiden Standpunkten ist was dran. Allerdings glaube ich, daß ein wirkliches Problem jenes ist, daß (quasi) Autisten wie Bill Gates nicht mehr in irgendeinem Kämmerlein sitzen und die Buchhaltung machen, sondern Politik betreiben bzw. die Gesellschaft anderweitig massiv beeinflussen. Da diese Menschen aber in Nullen und Einsen denken und relativ wenig soziale Kompetenz oder gar Empathie haben, wird durch ihre Macht auch die Gesellschaft auf diese Sichtweise reduziert.

    Nicht nur, aber als besonders gelungenes Beispiel sei das Smartphone(*) genannt, das niemand brauchte, bevor er oder sie es kannte. Weil aber eben jene Menschen, die lieber alles bestellen als es persönlich einzukaufen (Hilfe! Menschliches Miteinander! Igitt!) nun Apps und anderen Scheiß unter die Menschheit bringen, die dazu führen, daß man nicht mehr miteinander agiert sondern jeder im stillen Kämmerlein auf sein digitales Gerät glotzt und einhämmert, ist diese Gesellschaft (unter anderem, es gibt sicherlich noch weitere Gründe) so schrecklich gespalten, unsolidarisch und anderweitig negativ geworden.
    Meine Meinung.

    (*)bzw. auch der Computer als Gegenpart zum analogen Leben.

  7. Von der Seite, von welcher Erwin das Thema aufgreift, bin ich im Grossen und Ganzen bei ihm.

    Allerdings gilt einfach immer auch die simple Weisheit, dass von nichts nun mal nichts kommt.

    Bei einigen der Youngstern, die dieser ›Psychologe‹ als Bezug nimmt, muss ich mich schon fragen, was für eine Sicht auf das Leben die den eigentlich haben.

    Vielleicht bin ich einfach zu alt, um diesen Geist begreifen zu können; aber wenn man sich in die Ausbildung reinkniet, sollte es meiner Auffassung nach nicht nur darum gehen zu leisten, sondern man sollte auch eine Richtung haben.

    Wenn man dann erst studiert hat und merkt, scheisse, eigentlich mag ich nun gar nicht auf diesem Berufsfeld arbeiten, weil ich nur Widerwillen verspüre, dann ist da grundsätzlich etwas schiefgelaufen.

    Wo ist hier die Geisteshaltung ›Beruf‹ als Berufung aufzufassen?

    Natürlich hängt über allem das neoliberale Dogma, der Akkumulationsprozess und die damit verbundene Ausbeutung, aber ich bin überzeugt davon, dass es auch heute noch viele Berufsfelder gibt, die man als eigentliche Berufung auffassen kann. Ich möchte z.B. keinen Arzt haben, der seinen Beruf erlernt hat und dann Tag für Tag nur den Anschiss vor sich herschiebt, weil er bemerkt, ne, das ist nicht, was ich eigentlich will.

    In dem Zusammenhang hat Erwin von mir aus gesehen etwas wichtiges vergessen:

    In einer Welt, die den Kindern von klein auf suggeriert, dass sie alles erreichen können, wenn sie sich nur genug reinknien, dann zeigt das kein Ziel, sondern eine orientierungslose Beliebigkeit auf.

    Die Frage, wohin man im Leben gehen will, in einer Gesellschaft, wo es aus der naiven Perspektive eines Kindes oder eines Heranwachsenden keinerlei sinnstiftende Strukturen oder wenigsten einige vorgezeichnete Bahnen mehr gibt, wird nicht gestellt — was zählt, ist einzig, nicht frühzeitig unterzugehen, immer Oberkante Unterlippe mitschwimmen zu können, aber worum es denn im eigenen Leben im Kern gehen soll — diese essentielle Frage stellt niemand (mehr).

    Dann kann es nicht überraschen, wenn irgendwann die Ernüchterung kommt und die Betreffenden merken, wie es eine dieser jungen Frauen recht präzise ausgedrückt hat:

    Sie hat sich reingekniet, studiert und nun... was?
    42,5–45h-Woche in einem Berufsfeld, welches nicht das ihre ist — da ändert dann verständlicherweise auch das frische Obst nichts mehr.

    Tja, einerseits klar, an diesem Punkt erst angekommen dann rumzuweinen, ist reichlich dumm und bringt auch nichts mehr, andererseits ist es tragisch, dass es vielen genau so zu gehen scheint.

    Das zeigt, dass Bildung in unseren Gesellschaftsordnungen keinen Stellenwert als Selbstzweck mehr hat, sondern nur noch Mittel zum Zweck ist, Mittel zur weiteren Fortführung des Akkumulationsprozesses.

    Ich will mir nicht anmassen, nun ein harsches Urteil über diese jungen Erwachsenen zu fällen, vermutlich hatten sie nie Zeit, wirklich über das Wesentliche des Lebens nachzudenken.
    Andererseits, wobei ich das aus meiner Perspektive eines 45-jährigen sage, frage ich mich schon, wie entrückt von grundlegenden Sinnfragen des Lebens man sein muss, dass man sich mit 15 oder 16 nicht die Frage stellt, um was es eigentlich im Leben gehen soll.

    Als wir 15–16 waren, ging es unter uns Gleichalterigen um nichts anderes, und das, obwohl der Grossteil von jenen, mit denen ich damals meine Zeit verbracht hatte, bereits ganz im neoliberalen Sinne ausgesprochen kompetitiv dressiert waren — mich selbst eingeschlossen.

    Da muss in all diesen Jahren Unglaubliches passiert sein, dass die heute 15-Jährigen das entweder nicht mehr können, weil sie zu verplant sind, oder erst gar keinen Sinn für das Wesentliche im Leben mit auf den Weg gekriegt haben.

    Ganz ehrlich: ich kann das weder verstehen, noch kann ich die Ursachen nachvollziehen, wohl schlicht, weil ich vom Alter her zu weit von der Themenwelt der Jugend mit Tiktok, X und Instagram entfernt bin.

  8. Wie immer wieder zu kurz gedacht.

    Wenn man bspw. die Leistungsgesellschaft, dem so genannten Helikopterstaat gegenüberstellt, sollte man sich über die Intentionen, respektive den Zweck der jeweiligen Gesellschaftsmodelle vergewissern.
    Beide Modelle basieren auf einem mehr oder weniger hierarchischen System, auch Kapitalismus genannt, der immer zu einer Akkumulation des systemimmanenten Kapitals bei ein paar Wenigen führt.
    Beide befriedigen den Willen einer herrschenden Klasse und dienen letztendlich dazu, uns nur zu befrieden.
    Es stellt sich also nicht die Frage, welches der beiden Systeme sich als für uns am besten tauglich erweist, sondern, es sollte uns eher beflügeln die eigentliche Ursache zu bekämpfen, nämlich den Kapitalismus gänzlich abzuschaffen und durch ein gerechtes System zu ersetzen.

  9. @epikur

    Ich glaube nicht, dass alleine oder maßgeblich das Digitale/Binäre das verschlimmert hat. Die Inquisition z.B. oder das Naziregime wären da Gegenbeispiele. Binäres hat für mich eher einen Lautsprechereffekt und ist Verbreitungsbeschleuniger, man hat alles vor der Nase und kann auch gleich reagieren. Die tiefere Meinungsbildung ist immer noch ein analoges Ding, und die Kräfteverhältnisse unterscheiden sich früher wie heute eher kaum voneinander. Eher ist für mich der Wirtschaftsfaktor, Propaganda/Marketing das Problem — also Verbreitungsabsicht und die Methoden. Und da ist das Digitale auch nur ein Werkzeug.

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