Reale Welten vs. Fiktive Welten

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Immer wieder lese ich die akademische Grundannahme, es gebe hier die positiven, selbsterfahrenden, mit Sinneswahrnehmung ausgestalteten, realen Alltagswelten und dort die negativen, zerstörerischen und suchterzeugenden, fiktiven Medienwelten. Diese binär-dual-polarisierende Wahrnehmung empfinde ich als unwissenschaftlich, weil sie wenig Differenzierung, also Grautöne erlaubt. Ich würde sogar behaupten, dass es heute überhaupt keine trennscharfe Linie ‑zwischen vermeintlich realen und vermeintlich fiktiven Welten- mehr gibt. Es existiert hier längst kein entweder oder mehr, sondern nur ein sowohl als auch.

In dem Buch von Jürgen Fritz »Das Spiel verstehen: eine Einführung in Theorie und Bedeutung« heißt es beispielsweise:

»Medien verweisen in der Regel auf Aspekte der realen Welt« (S. 189)

»Dies deutet darauf hin, dass in der medialen Welt deutliche Verwebungen mit der mentalen Welt stattfinden« (S. 191)

Auch in vielen anderen Texten und Beiträgen zum Thema Medienkompetenz wird immer wieder der Kontrast zwischen beiden Polen aufgemacht. Dabei gibt es heute, im Jahr 2017 eine ganze Fülle von digitalen, Online‑, Werkzeugen, Instrumenten und Angeboten, die eben nicht im Gegensatz zur realen Welt stehen, sondern für sehr viele Menschen schlicht Alltagsleben sind. Oder anders ausgedrückt: es gibt keinen irgendwie messbaren und/oder bedenklichen Einfluss von medialer, fiktiver und digitaler Symbole, Narrative und Zeichen mehr, die auf die Lebenswelten der Menschen einwirken — Sie sind die Lebenswelten! Folgende tägliche Erfahrungswelten zeigen sehr deutlich auf, dass es keinerlei trennendes Ordnungsgefüge zwischen real und digital mehr gibt:

  • Smartphone-Junkies
  • Amazon, Facebook, Google, Wikipedia
  • Online-Banking
  • WhatsApp
  • Pokemon Go
  • E‑Mail
  • Virtual Reality
  • Soziale Netzwerke
  • »Youtube-Stars« (oder: mit Youtube Geld verdienen)
  • US-Drohnensteuerung ähnelt einem PC-Spiel
  • Gamification
  • Cybermobbing
  • Das Web insgesamt als erweiterter Business-Raum
  • usw.

digital ist sehr real
Sicher, noch werden nicht komplett alle Sinne gleichzeitig digital angesprochen. Und noch leben wir nicht in einem dystopischen Cyberpunk-Szenario. Nur weit entfernt davon sind wir auch nicht mehr. Oder wer konnte beispielsweise vor 15 Jahren ahnen, dass es im Jahr 2017 kaum noch möglich ist, einen öffentlichen Raum (Park, Konzert, Cafe, Bibliothek, Bus/Bahn, Geschäft etc.) zu betreten, ohne dass man nicht ständig irgendwelchen Dummphone-Menschen über den Weg läuft, die wie hypnotisiert auf ihren Bildschirm starren, alles aufnehmen und fotografieren müssen sowie kaum noch eine wirklich sinnliche Wahrnehmung für ihre Umgebung haben? Ist das etwa keine Dystopie?

Ich kann mich beispielsweise an ein Erlebnis am See erinnern. Ich war dort den ganzen Tag zum Entspannen, schwimmen und sonnen. Dann kamen zwei junge Frauen, zogen sich bis auf ihre Badesachen aus, stellten sich ans Wasserufer und machten mit Ihren smartphones ein paar Selfies. Dann gingen sie wieder. Ich möchte wetten, sie haben diese Bilder auf Facebook gepostet mit dem Satz: »toller tag am See« oder so ähnlich. Die digitale Identität ist die reale Identität und umgekehrt.

Es gibt eine ganze Reihe von Filmen, die das Motiv der »realen Fiktion« sehr eindringlich thematisiert haben:

  • Matrix
  • Total Recall
  • Transcendence
  • Tron
  • Der Rasenmähermann
  • WarGames
  • Cypher
  • Virtuosity

In der Wissenschaft scheint sich vielerorts aber die konservative Erzählung von »guter realer Alltagswelt« versus »böser fiktiver Medienwelt« streng zu halten. Wie immer man das am Ende für sich selbst bewerten mag: ich sehe beim besten Willen keinerlei Gegensätze mehr! Erst recht nicht, wenn Busse und Bahnen zum überwiegenden Teil mit Smartphone-Zombies bevölkert sind.

5 Gedanken zu “Reale Welten vs. Fiktive Welten

  1. ich lese eigentlich gerne die zeitung auf dem smartphone, wenn ich mal mit den öffentlichen in die arbeit fahre. für eine »richtige« zeitung ist die fahrt aber zu kurz.

  2. bei den Koalitionsverhandlungen dürfte so manchem Politiker der Gedanke kommen, dass die Bürger »draußen im Lande« nur eine Fiktion sind. Realpolitik 2.0könnte man das nennen.

  3. Ein seltsamer Gegensatz, auf der einen Seite eine jahrzehntelange, völlig naive Positivsicht auf die digitale Welt, die eigentlich erst mit dem NSA-Skandal beendet wurde.
    Auf der anderen Seite strukturkonservatives, fast schon verstaubtes Denken, daß irgendwie etwas sehr antimodernes an sich hat.
    Oder vielleicht doch kein Gegensatz, sondern Ergebnis der gleichen Denkweise in Einsen und Nullen, die heute überall zu beobachten ist?

  4. Pingback: Aus dem Gelben Forum: Es ist Zeit für eine November-Revolution… – systemfrei.net

  5. Das Digitale ist vor allem deshalb sehr real, weil wir nach wie vor »visuelle Wesen« sind und beim Gebrauch elektronischer Geräte darüber hinaus auch auf unsere Fingerchen angewiesen sind. Was technisch abläuft, bleibt uns verborgen; es ist ein oberflächlicher Umgang mit Technologie, im wörtlichen Sinne.

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