„Demnach beträgt der Anteil der Kaufkraftarmen in Berlin 21,3 Prozent, nur in Bremen gibt es mit 24,6 Prozent noch mehr Kaufkraftarmut.“
tagesspiegel.de vom 2. März 2017
Der Begriff „Kaufkraftarmut“ setzt sich aus den Wörtern Kaufkraft und Armut zusammen. Das Institut für Wirtschaft in Köln definiert das Schlagwort so: „Die Kaufkraftarmut ist der Anteil an Personen mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des regional preisbereinigten deutschen Medianeinkommens; in Prozent der Bevölkerung.“ Um den Begriff der Armut werden regelrechte Diskurs- und Statistik-Kriege geführt. Immer mit dem Ziel, Massenarmut weg zu rechnen und finanzielle Existenznot von Millionen von Menschen in Deutschland nicht anzuerkennen, weil sie nach Statistikberechnung X oder Methode Y nicht mehr als arm gelten (sollen).
Gleichzeitig werden die finanziell Armen ‑ganz im Sinne des Teile und Herrsche Prinzips- aufgeteilt, gespaltet und gegeneinander aufgehetzt. So gebe es viele verschiedene Armutsformen statt einer großen Massenarmut: die Kinderarmut, Armutszuwanderung, Altersarmut, die soziale Ungleichheit, Einkommensarmut, relative Armut, Bedürftigkeit, Geldnot oder eben die Kaufkraftarmut. Der Armutsbegriff ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine endlose Relativierung wirkt: alles und jeder subsumiert sich darunter und gleichzeitig Niemand. Womöglich soll am Ende genau das erreicht werden:
„Armut ist die große Unbekannte der Gesellschaft.“
welt.de vom 26. Februar 2017
verdrängen und verleugnen
Nichts genaues weiß man nicht. Man weiß auch nicht, was man dagegen tun können sollen müsste. Es sei schließlich alles ein großes Geheimnis. Die Verelendung der Massen in großem Stil, die systematische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben sowie die menschenverachtenden Praktiken der ALG2-Gesetzgebung, wird von einem ganzen Arsenal von euphemistischen Schlagwörtern begleitet. Finanziell arme Menschen, die der Willkür der Jobcenter ausgeliefert sind, werden zu Kunden. Zwangstermine unter Sanktionsandrohung werden zu Einladungen. Und Stellenanzeigen für prekäre Niedriglohnarbeiten werden zu Jobangeboten. Massenarmut ist somit weder ein Naturphänomen, noch göttliche Fügung, sondern systematisch und strukturell gewollt und verursacht.
Die statistische Relativierung und die mediale Verharmlosung der politisch gewollten Massenarmut in Deutschland, hat spätestens seit der Agenda 2010 politische Tradition. Die Probleme von steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten, geringen Löhnen, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Armutsrenten und der Massenerwerbslosigkeit werden relativiert, schön geredet oder als schlicht nicht vorhanden bezeichnet („spätrömische Dekadenz“ — Guido Westerwelle). Der Begriff „Kaufkraftarmut“ ist hierbei ein weiteres rhetorisches Puzzlestück, dass dazu dienen soll, Massenarmut als Eigenverantwortung zu instrumentalisieren.
Danke, für diesen so schön entlarvenden Beitrag.
hier ist noch so ein schöner Beitrag:
https://www.rubikon.news/artikel/die-neoliberale-diktatur-ist-bereits-da
Aus Sicht des Konsums und derer, die davon profitieren wollen, ist das ein völlig korrektes Wort.
Es setzt denen, die als mündige Verbraucher im Spiel »Sein durch Schein« nicht so recht mithalten können, unterschwellig gleich die Pistole mit auf die Brust, um sie in diesem unseren Selbstverbessererzirkus anzutreiben — lieber Schulden machen als Aussenseiter zu sein.
Der Kreislauf des Kaufens um des Kaufens willen statt nach Bedarf muss schliesslich angetrieben werden. Wobei die Kaufkraftarmen (sic) selbst ihren Bedarf nicht ausreichend decken können.
Immerhin gibt es mit dem Armutsbericht eine geschönte Statistik darüber, dass es Armut gibt. An den Ursachen rütteln weder der Bericht noch dessen Verfasser herum.
Mir hat es schon wieder gereicht, eine Frau Nahles, führende Gewerkschafter und andere Marionetten der Lobby zum 1.Mai die typischen Parolen über die Zustände grölen zu hören, die sie selbst mit verursacht haben. Dann reiben die sich alleweil die verklebten Äuglein darüber, warum sie beliebt sind wie Fusspilz und die Dinge in der Welt so sind, wie sie sind...
Chapeau! Der Begriff Kaufkraftarmut fehlt noch in meinem Lexikon.
Dein Artikel ist in sich geschlossen und liest sich gut.
der begriff kaufkraftarmut bzw. seine definition ansich (!) ist gar nicht mal so uninteressant.
60% vom medianeinkommen preisbereinigt regional zu betrachten ist schon sinnig. denn natürlich braucht man in münchen mehr kohle für den gleichen lebensstandard wie in berlin.
der witz ist natürlich, wie die zeitung mit den ergebnissen umgeht bzw. diese armutsform schön redet. das gibt ja auch dein blogartikel sehr schön wieder.
man muss sich doch alleine mal fragen, wie es im reichen schland sein kann, dass laut den daten man egal wo (!) mindestens (!) 6,6% (!) kaufkraftarme hat. und die spitzenregionen gehen bis sage und schreibe 33%!
diese leute können sich u.a. nicht mal eben ne neue waschmaschine kaufen! und das nicht, weil die verschwender sind.
bei mir inner gegend laufe ich also laut welt und iw alle 6 menschen nem armen über den weg.
aber deutschland geht es gut. kotz.
Armut ist doch nur eine Wohlstandsdelle.
Ganz vergessen: die Armen sind natürlich — genau wie Obdachlose, Hartz4-Empfänger und Suchtkranke — alle selbst schuld an ihrer Situation. Wer die heiligen Dogmen der Eigenverantwortung und Selbstoptimierung nicht verinnerlichen kann oder will, muss eben leiden.
Das Problem ist, dass man Werte in Geld misst, die gar keinen Preis haben oder haben können.
Noch sitzt Ihr da oben, Ihr feigen Gestalten.
Vom Feinde bezahlt, doch dem Volke zum Spott!
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk, dann gnade Euch Gott!“
Der Begriff war mir noch gar nicht untergekommen — der Zynismus dieser gedrechselten Worthülsen ist kaum noch zu überbieten.
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