Vereinsamung als Herrschaftsprinzip

vereinsamung_titelDer Anteil der Singlehaushalte in Deutschland liegt bei 37,2 Prozent, damit leben 17,1 Prozent der Bevölkerung allein. Von diesen 13,4 Millionen Personen sind nur 17,6 Prozent jünger als 30 Jahre. 42 Prozent von ihnen leben in Großstädten mit mindestens 100 000 Einwohnern (Statistisches Bundesamt). Tendenz steigend. Wie üblich wird in unserer kapitalistisch-medial-verdummten Gesellschaft kein Diskurs über die Ursachen geführt oder warum wir diese starke Vereinsamungsquote haben. Stattdessen gibt es, wie üblich, jede Menge Profithaie, die an diesem Problem verdienen und nach marktkonformen Lösungen suchen wollen. Dabei ist diese Entwicklung weder Zufall, noch Schicksal oder ein unabwendbarer Trend. Sie ist das Ergebnis vom Zusammenspiel geplanter und gezielter Faktoren auf der Makro- und Mikroebene.

Leistungsgerechte Liebschaften
Politik, Wirtschaft und Medien predigen seit über 30 Jahren die gottesfürchtigen Prinzipien von Markt, Leistung, Wettbewerb, Konsum und Habendenken. Auch der egoistische Kosten-Nutzen-Mensch sei ein Garant für Frieden, Wohlstand, Zufriedenheit und Glück. Diese marktradikale Ideologie ist jedoch keineswegs nur auf die Berufs- und die Medienwelt beschränkt, sondern hat bereits fast alle Lebensbereiche erobert und ist in der zwischenmenschlichen Liebe auch sehr präsent. Die Vermarktwirtschaftlichung der Sprache der Liebe zeigt das besonders deutlich. Das Besitzdenken äußert sich, indem nicht der Vorname, sondern stets von mein Mann oder meiner Frau gesprochen wird. Menschen seien einem viel wert oder sie werden geschätzt, in Beziehungen wird investiert oder an ihnen muss gearbeitet werden.

Liebeshungrige sehen sich mittlerweile als Bewerber und Konkurrenten auf dem Persönlichkeitsmarkt. Es gibt (Online-)Marktplätze, Dating-Seiten und Single-Börsen, wo sich Alleinstehende bestmöglich inszenieren und verkaufen wollen. Dort gibt es ganz spezielle Attribute, die nachgefragt werden und den eigenen Wert steigern. Bei Frauen ist das primär ein gutes Aussehen und eine schlanke Figur. Bei Männern, Geld, Besitz und Vermögen. Wer diese (und einige andere stark nachgefragten) Werte, nicht besitzt, hat weniger Chancen beim anderen Geschlecht. Natürlich gibt es Menschen, denen andere Eigenschaften, wie Humor, Intelligenz, Charme, Kreativität und so weiter wichtiger sind, aber sie sind und bleiben die Ausnahmen, wie etliche Umfragen, Studien, Untersuchungen und auch die Foren von Singlebörsen beweisen.

Typische Forumbeiträge bei elitepartner.de:

»Kontakt entpuppt sich als arbeitslos-No Go?«

»Passt er zu mir? Wieviele Kompromisse sind machbar?«

»Wie hoch sollte die Toleranz bei der Partnerwahl sein?«

Gewinnbringende Gelüste
Männer und Frauen sehen sich heute ganz selbstverständlich als Objekte und Waren in einem Menschenbasar, auf dem man sich bestmöglich anpreisen und verkaufen muss. Natürlich kann man jetzt behaupten, dass dieser Habitus irgendwie schon immer vorhanden war. Ich wage jedoch die These, dass im neofeudalen Deutschland die zwischenmenschliche Objektreduzierung und die neurotische Selbstoptimierung einen neuen Höhepunkt erreicht haben. Denn auch in der Berufswelt werden Menschen ganz selbstverständlich zu Objekten gemacht, die –ohne Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten- eine Funktion ausfüllen sollen. Wer schließlich seine Mitmenschen primär nach Kosten, Nutzen und Eigenvorteil bewertet, wird –ganz im Sinne einer marktfundamentalen Betrachtungsweise- eben auch viele Menschen als wertlos und überflüssig betrachten. Individuelle Charaktermerkmale interessieren nur noch insofern, als sie für die eigene Bedürfnisbefriedigung von Vorteil sind. Es ist heute ganz so, wie es der Psychologe und Soziologe Erich Fromm schon vor über 50 Jahren in der »Kunst des Liebens« beschrieben hat:

»Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen Vorzüge aus und hoffen auf ein faires Geschäft.«

Erich Fromm. »Die Kunst des Liebens«. Ullstein Verlag 2010 (Original 1956). S. 102

zeit.de vom 28. März 2016

zeit.de vom 28. März 2016

Gleichzeitig steigen das überzogene Anspruchsdenken sowie die eigene illusionäre Erwartungshaltung. Man will vor allem Nehmen und Haben. Die eigene Toleranzgrenze gegenüber vermeintlichen Charakterschwächen sinkt rapide, die Kompromissfähigkeit wird zum Tauschgeschäft und Konflikte sind Kampfarenen geworden, in denen jeder als Sieger hervorgehen will. Wenn die Bedürfnisse des Ich –also die rücksichtslose Selbstoptimierung als Zeichen einer egozentrischen Selbstverwirklichung- gnadenlos über alle anderen Interessen gestellt werden und die Fähigkeit zur Empathie der Eigenverantwortung weicht, ist es wenig verwunderlich, wenn immer mehr Menschen in Einsamkeit vor sich hin darben. Zwischenmenschliche Beziehungen sind heute vielfach tief verinnerlichter Neoliberalismus, bei dem große Bevölkerungsschichten als überflüssige Ballastexistenzen marginalisiert werden.

Esoterische Egozentrik
Die Entsolidarisierung und Vereinzelung hat für die Eliten den hübschen Nebeneffekt, dass der Widerstand gegen das destruktive Gebaren von Banken, Konzernen und Milliardären insgesamt stark geschwächt wird. Seien es Massendemonstrationen, soziale Bewegungen oder Gewerkschaften: sie alle haben große Schwierigkeiten nicht nur die Masse der Bevölkerung zu erreichen, sondern auch neue Mitstreiter zu finden. Was die Mehrheit dafür verinnerlicht, ist die Dauerbeschallung von schwülstiger Hollywood-Kitsch-Romantik sowie weichgespülte Radio-Lovesongs (Beispiel: Adele mit »Hello« über 1,3 Milliarden views auf youtube), in der die Liebe nicht als kreativer Prozess, sondern als esoterische und übersinnliche Magie dargestellt wird. Diese Definition negiert, dass es durchaus auch eigener Anstrengung bedarf, um eine Beziehung aufrecht zu erhalten. Kompromissfähigkeit, Konfliktkultur und Selbstreflexion seien dafür aber nicht nötig. Sollte es nicht klappen, war stets das Gegenüber schuld und man zieht einfach weiter. Gibt ja genug Singles.

Kinoplakat einer aktuellen Liebesdrama-Schmonzette

Kinoplakat einer aktuellen Liebesdrama-Schmonzette

Diese Form der vermeintlichen übersinnlichen Liebesmagie beschönigt und versteckt zudem, dass die Partnerwahl heute keineswegs zufällig ist, sondern nach ganz speziellen Kriterien gezielt getroffen wird. Romantik und Berechnung schließen sich jedoch aus. In der Realität führt die große Diskrepanz zwischen dem vermittelten Liebesideal der Romantic Comedys, der Liebesschnulzen (Pretty Woman, Bodyguard, Titanic etc. etc.) und der Disney-Kinder-Romantik, dann häufig zu massenhaften Enttäuschungen. Besonders für die vielen vielen Frauen, die im Herzen noch immer Prinzessinnen sind und auf ihren attraktiven (Gutverdiener-)Prinzen warten, aber doch immer nur den vermeintlichen Frosch bekommen.

Fazit
Die starken Vereinsamungstendenzen in Deutschland besiegt man nicht mit (Online-)Partnerbörsen oder Singlepartys. Auch wenn sich womöglich dadurch die eine oder andere Liebe finden mag. Profitieren tun davon vor allem die Betreiber solcher Portale. »Einen Menschen so zu akzeptieren, wie er ist« – das ist heute ein beliebter Spruch für Glückskekse und Postkarten, wird aber nicht gelebt. Menschen, also Subjekte und Individuen, werden heute gnadenlos nach ihrer gesellschaftlichen Funktion, nach vorzeigbaren Status Symbolen (Auto, Haus, Garten, Besitz, Kinder, toller Job, Aussehen etc.) sowie nach egoistischen Bedürfnisbefriedigungskriterien zwischenmenschlich be- und verurteilt. Würden wir wieder lernen, Menschen in ihrem So-Sein anzunehmen und zu akzeptieren, mit allem was dazu gehört, dann würde es auch weniger Singles geben. Das jedoch, widerspricht der neoliberalen Ideologie, die heute jeder mit der Muttermilch aufsaugt.

12 Gedanken zu “Vereinsamung als Herrschaftsprinzip

  1. »Junge Frau, 28, schlank, studiert, humorvoll, blond mit Pferdeschwanz such Mann mit gleichen Eigenschaften!«

    Oder etwas prosaischer:
    »Einsamer sucht Einsame zum Einsamen!«

  2. »Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge, daß er ihm ähnlich wird.« »Wer? Der Entwurf?« »Nein«, sagte Herr K., »der Mensch.«
    — Bertolt Brecht

  3. »Wollen sie Kinder?« — »Nein, kann ich absolut nichts mit anfangen, und dieser Terz, von wegen »Nest bauen« usw., kann ich auch nichts mit anfangen.«
    — Denken tun’s wahrscheinlich einige, aber finde einen, der es laut ausspricht, der darf sich anhören »du egoistisches Arschloch!«.

  4. Nicht schön, aber treffend. Aber: Wundert’s einen? Wir haben Kapitalismus, und da bekommt eben ausnahmslos alles unaufhaltsam Warencharakter...

  5. Dazu paßt übrigens auch das derzeit medial weitgehend verschwiegene Thema, dass die nach der Eheschließung gezeugten Kinder automatisch zu Konkurrenten werden wenn es um’s Erben geht (manchmal nicht einmal Streit ums Geld oder großes Erbe) — Da schwellen dann oft uralte Konflikte auf, die dann gnadenlos ausgeschlachtet werden — Warte mal gespannt auf einen Artikel von Epikur zum Thema.

    Ich weiß von was ich schreibe, da ich diese gnadenlose (neoliberale) Konkurrenzsituation gerade selbst im Alltag hier erlebe, wie der ein oder die andere vielleicht mitbekommen hat.

    Auch egal, ich wollte es nur schreiben, da dann verständlich wird warum manche auch ganz auf’s Kinder zeugen verzichten, oder gar eine Frau bzw. einen Mann suchen.

    Warum?

    Gibt ja doch nur Ärger in solchen »Zweckehen«

    Gruß
    Bernie

  6. Einen neoliberalen Oberpriester / Westerwelle hat ja der liebe Gott schon Vorzeitig aus dem Verkehr gezogen , als nächstes sind die rücksichtslosen Leuteschinder dran, wenn der Leistungsdruck weg ist haben wir auch wieder Zeit für die Liebe

  7. @Bernie

    Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen. Das Thema »Erbe« wird in meinem Leben wohl keine große Rolle spielen. Insofern kann ich dazu auch wenig sagen ;) Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Familien an der Gier am Erbe zerbrechen können.

    @Cource

    Schön gesagt. Leider wurde der neoliberale Habitus in den Köpfen der Menschen bereits tief verinnerlicht. Da braucht es wohl eher einen richtigen »Wertewandel«.

  8. @Bernie: Kinder werden nicht allein durch eine mögliche Erbschaft zu »Konkurrenten«. Dazu Bedarf es eigentlich keiner konkreten Form wie einer gesetzlichen Erbengemeinschaft. Ältere Kinder müssen z. B. regelm. damit klar kommen, dass die Eltern ihm weniger Zeit und Aufmerksamkeit schenken, wenn jüngere Kinder »in Konkurrenz« treten. Die damit verbundenen »Probleme« kann man bis zurück ins Mittelalter verfolgen — wenn die Nachkommen des Burgherren ihre Burgen in mehrere Ganerbenburgen aufteilten. Und da gab es ja auch noch keinen Neoliberalismus... Auch wenn jener im Grunde eine Vorstufe zurück in mittelalterliche Verhältnisse darstellt. ;)

    Dieser (die Familien in ihrem eigentlichen Innern zersetzende) »Konkurrenzdruck« ist aber systemisch (vor allem im Hinblick auf die Züchtung zu möglichst früh als »belastende Kostenfaktoren« das Elternhaus zu verlassen habender Lohnarbeitsdrohnen) eigentlich: von Geburt an da. Der Neoliberalismus ist im Grunde der totalitäre Feind der Familie (denn jene stellt immer noch einen gewissen »Rückzugsort« dar — wird aber z. B. vielfach als »Hotel Mama« verspottet und geächtet). Es gärt ggf. lange vor sich hin, kommt dann aber (grade wenn es um Geld geht) dann ungefiltert ans Tageslicht. Es ist eh »lustig« anzusehen, wie hier auf dem Dorf um ältere Männer und Frauen (ohne Kinder) regelm. irgendwelche »Satelliten« zu kreisen beginnen, welche sich als Entlohnung eine Erbschaft erhoffen (wenn man nicht vorher schon die Hand aufhält).

    Zumal es eh keine günstigere Keimzelle für wirklichen Hass gibt — als die klassische »Familie« (im Kapitalismus)...! Denn der angestaute Druck, der von Außen (Anpassung, Unterwerfung) auf die einzelnen Mitglieder ausgeübt wird, entlädt sich dann dort in regelmäßig explosionsartiger Form...!

  9. @epikur

    Tja, ich eigentlich auch, aber nach dem Tod meines Vaters habe ich halt was geerbt, aber nicht viel, da die Haupterbin seine Witwe, meine Mutter ist — lt. Erbengemeinschaft — und wir vier Kinder uns den Rest aufteilen.

    Der Fehler meines Vaters war zu Lebzeiten kein Testament — für unser aller Rechtssicherheit — zu machen, und nun stehen wir halt da wir der sprichwörtliche »Ochse vorm Berg« und sind uns alle uneinig wie es weitergehen soll — nicht nur finanziell, man muss in meinem Fall sogar befürchten wohnungslos zu werden, wenn es ganz dumm läuft — dank »lieber« Geschwister :-( ;-)

    Tja, nächste Woche bin ich beim Anwalt für Erbrecht, kannst mir ja mal die Daumen drücken, dass der mir zumindest was Wohnrecht im Elternhaus sichert wo ich schon immer gelebt habe, seit ich auf dieser Welt bin. ;-)

    Ist was anderes wenn ich freiwillig ausziehe...aber mich zwangsweise auf die Straße setzen, dass geht nicht...soviel weiß ich auch, da ja meine Mutter die Haupterbin ist...ich will es halt schriftlich vom Anwalt haben, damit ich dies meinen Geschwistern genauso vor die Nase setzen will....

    Gruß
    Bernie

    PS: Ich finde es dennoch traurig, dass es soweit gekommen ist und weiß ja jetzt auch was mein verstorbener Vater meinte als er mal — in einem anderen Zusammenhang — äußerte: »Am Besten man hat gar nichts, dann hat man schon keinen Ärger!«

  10. @Bernie: Das wärt ihr mit auch. Du hättest ja auch dein Erbe ausschlagen können — dann hättest du auch kein Ärger. ;) Ein Testament nützt in familiären Erbsachen auch nur recht wenig, da es die gesetzliche (Kinder) als auch die daneben stehende Erbfolge des Ehegatten nicht betrifft. Dort können jene per Testament Ausgeschlossene (zivilrechtlich) dann ihren Pflichtteil den Erben gegenüber geltend machen. Führt in der Regel eher zu noch mehr Terror und Anwaltskosten. Such mal bei wikipedia nach gesetzlicher Erbfolge. ;) Da’s an anderer Stelle schon mal geschrieben wurde: Diese ständigen Verweise auf deine private Situation führen mit der Zeit zu einer gewissen »Abnutzung«, was das Verständnis und das Mitgefühl betrifft. Verarbeite deinen Frust doch z. B. in ’nem eigenen Blog? Da findest du vielleicht auch eher Leute, denen es ähnlich geht. Ist auch nicht böse gemeint — aber es passt thematisch oft auch nur sehr selten zu den Beiträgen, unter denen du deine Situation (oft mehrfach wiederholend) schilderst.

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