Vor einiger Zeit saß ich im Wartezimmer eines Kinderarztes und las die Elternbriefe. Eine Initiative der katholischen Kirche, die nach eigener Aussage: »dazu beitragen (wollen), dass das Leben in Ehe und Familie gelingt. [...] Erarbeitet werden die Briefe von einem Team von Fachleuten: Erziehungsberatern, Ärztinnen, Theologen, Journalisten.« Klingt auf den ersten Blick unverfänglich und nobel. Als ich jedoch im Elternbrief Nr. 35 die Experten-Vorschläge gelesen habe, wie man als Eltern auf die Frage des Kindes »Warum sitzt der Mann auf dem Bürgersteig« reagieren sollte, kam mir die Galle hoch.
Die sog. Experten liefern drei Vorschläge wie man seinem Kind antworten könne. In Vorschlag Eins gibt es beispielsweise folgende menschenfreundliche Formulierungen:
»Aber wenn er hier seinen Hut aufstellt, bekommt er eben immer wieder ein paar Euro extra. [...] Manchmal gebe ich Bettlern nichts, weil ich denke, sie vertrinken das Geld nur oder sie gewöhnen sich daran, für Nichtstun Geld zu bekommen.«
Das erwerbslose, obdachlose Pack bereichert sich und lungert den ganzen Tag nur herum. Und dann besitzt es auch noch die Frechheit, mit dem Geld anderer Leute, das eigene Leid, die Verachtung und Ablehnung, die es täglich von seinen Mitmenschen zu spüren bekommt, mit dem Alkohol zu ertränken und zu betäuben. Das geht so nicht, Kind! Wir dürfen mit überflüssigen Ballastexistenzen kein Mitleid haben. Lass uns weitergehen! Wir müssen pünktlich beim Klavier-Unterricht sein.
Vorschlag Zwei liefert den Eltern eine Rechtfertigungsformel, um nicht helfen zu müssen und bedient rassistische Vorurteile:
»Aber unser Geld reicht nicht aus, um allen zu helfen. [...] Es gibt nämlich Gauner, die andere zum Betteln schicken und ihnen das Geld nachher abnehmen.«
Wir Biedermeier-Weltverleugner-Mittelstands-Katholiken-Narzisten haben keinen Cent übrig für faules und herumlungerndes Pack. Wir müssen doch mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren, unseren Flatscreen-Fernseher abbezahlen und brauchen unsere zwei Autos. Außerdem sind das sowieso alles nur Zigeuner und anderes niederes Gesindel. Komm Kind, wir müssen zum Gottesdienst!
Die dritte Möglichkeit bedient dann ganz die Agenda 2010 – Eigenverantwortungs-Rhetorik:
»Ich kenne ihn nicht und weiß also nicht, wie es dazu gekommen ist, dass er so leben muss. Ich gebe ihm nicht so gerne Geld, weil es sein kann, dass er sich dafür keine Lebensmittel, sondern Alkohol kauft.«
Oder auch: ich will ihn weder kennenlernen, noch wissen, warum er auf der Straße lebt. Letztendlich ist er sowieso ganz allein für sich verantwortlich. Daran haben weder 100 Prozent Sanktionen des Jobcenters, ein instabiles Elternhaus, noch Sozialabbau schuld. Wir als gute Katholiken verurteilen Drogen, Obdachlose, Erwerbslose und Asylanten generell. Auch wollen wir gar nicht wissen, wieso Menschen süchtig werden können. Wir könnten dem Obdachlosen statt Geld, auch einfach Lebensmittel geben, aber dann würden wir Mitgefühl und Empathie beweisen. Und das sollst Du, Kind, mit so einem menschlichen Abschaum erst gar nicht entwickeln.
Wenn das die Werteerziehung der katholischen Kirche sein soll, dann sind ja selbst die verträumten Alt-Sozen mit ihrem Glauben an den gezähmten Kapitalismus sozialer eingestellt. Übrigens informieren die Elternbriefe auch über: »was tun gegen Missbrauch«. Vielleicht zu allererst die katholische Kirche meiden?
lies dir mal von Dürrenmatt ›ein Engel kommt nach Babylon‹ durch. Bekommst de wieder besere Laune.
Ich gebe zu, dass ich vor einigen Jahren ähnlich gedacht habe. Nämlich dass ich mit meiner Spende keinen Alkoholimus oder Drogenkonsum fördern möchte. Doch irgendwann wurde mir klar, dass dies kein Argrument ist, nichts zu geben. Schließlich unterstütze ich den Menschen dadurch ganz bestimmt nicht, mit Drogen oder Alkohol aufzuhören und da raus zu kommen. Meine Spende hilft diesem Menschen — egal wie — über den Tag und wenn ich ihm mit ein paar Euro zeigen kann, dass er mir nicht völlig egal ist, dann ist dies zwar nur ein kleine Geste, aber doch eine wichtige Geste. Egal wofür er es ausgibt. Das geht mich dann letztlich nichts an. Ich möchte ja auch nicht, dass mir mein Arbeitgeber oder das Jobcenter reinredet, wofür ich mein Geld ausgebe.
Sowas erzählt man Kindern, die nach herrschender ökonomischer Doktrin selber Parasiten sind, sich aushalten lassen?
Was leistet denn so ein Kind bis es 16 ist?
Ich dachte immer, dass Geld gelebte Freiheit ist, soll der Obdachlose doch sein Geld versaufen.
Ob er nun den ganzen Tag hungert, weil er gar kein Geld erhält, oder einen Teil oder alles davon versäuft, ist mal seine Sache.
Wenn wir es nicht hinbekommen, dass es bei allem Überfluss solche Existenzen gibt und immerfort Existenzen auf dieses Niveau gedrückt werden, dann sollten wir es sein lassen, bei den ihrem Alkoholkonsum den besseren Menschen zu mimen, der gute Ratschläge zur Hand hat.
Wenn der sein Geld nicht versaufen soll, dann hier gleich noch weitere Vorschläge zum Umgang mit Geld:
1. Schönes Vollkornbrot kaufen, wegen der wichtigen Ballaststoffe
2. Nur das Bioobst und ‑gemüse kaufen. Das ist gesünder und ökologisch besser.
3. Wasser in Flaschen ist von schlechter Qualität, lieber Leitungswasser.
4. Hätte der Obdachlose seine 15 € pro Tag mal vor 20 Jahren in Apple-Aktien investiert, da hätte er heute eine schöne Rendite erhalten, oder Immobilien.
5. Vielleicht seinen Platz unter der Brücke bei AirBnB vermieten?
6. Er soll sich mal nicht so haben, Geld allein macht auch nicht glücklich.
Ja, die lüben Chrüsten! Mehrheitlich finden die ja auch Hartz iv ganz toll, zumindest solange sie nicht selbst betroffen sind. Die finden auch Tafeln und Kleiderkammern sooo toll.
Was vom organisierten Christentum aka Kirche zu halten ist, weiss jeder halbwegs Verständige seit den Kirchenoberen-Statements zur Agenda 2010. Und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände haben sich ja auch prächtig an der neuentstandenen Armutsverwaltung mästen können – wer beißt schon in die Hand, die ihn füttert …
Ach, en passant fällt mir noch ein viertes Elternargument ein:
»KInd, demnächst soll das Bargeld abgeschafft werden. Ich will diesen Bettler nicht zu sehr an Bargeld gewöhnen, was wird er denn tun, wenn es das nicht mehr gibt? So helfe ich ihm, sich mit der kommenden Situation zurecht zu finden.«