Die Shitstorm — Nichtbewegung

Original: Johan Larsson, flickr.com. Bearbeitet von epikur.

Als »shitstorm« bezeichnet man eine massenhafte öffentliche Entrüstung, die meist im Internet über soziale Netzwerke (twitter, facebook etc.) stattfindet. In kurzer Zeit können sich so große Empörungs- bzw. Entrüstungswellen entwickeln. Auf Facebook werden viele Kommentare zu einem spezifischen Thema oder einer bestimmten Äußerung veröffentlicht, dutzendfach Inhalte geteilt und massenhaft Beiträge mit einem »gefällt mir« versehen. Dieses neuartige Phänomen zieht meist große Aufmerksamkeit auf sich und setzt damit Politik, Medien und Unternehmen einerseits unter Druck und Zugzwang, andererseits sehen Werbenetzwerke (Affiliate), durch tausendfache Klickraten (Page Impression), hier eine große Profitchance.

Früher gab es öffentliche oder vom Unternehmen eingerichtete Beschwerdestellen, heute wird sich über Facebook und Twitter ausgekotzt. Häufig geht diese Entrüstung selten über einen beleidigenden Einzeiler wie »find ich scheiße« hinaus. Zumal twitter nur eine begrenzte Zeichenanzahl hat. Fundierte, sachlich argumentative Kritik mag zwar auch vorkommen, geht aber im Brüllgewitter häufig unter. Seit es soziale Netzwerke gibt, hat sich der Stammtisch zunehmend ins Internet verlagert.

Die digitale Lotion
Social Media hat vor allem zwei Funktionen: Selbstinszenierung und Selbstbestätigung. Egal ob Facebook, Twitter, Google+ oder Xing, immer geht es darum, sich selbst gut zu verkaufen, ein Bild von sich entstehen zu lassen, das andere toll finden, um soziale Bestätigung zu finden. Schließlich ist der Hunger nach »likes« und positiven Kommentaren unendlich groß. Schaut her: mein tolles Leben, mein tolles Kind, mein toller Lebenspartner und wie toll ich doch bin (Fotogalerie). Das unfreiwillig freiwillige Selbstmarketing von Millionen Facebook-Usern ist vor allem ein Zeichen für einen neurotisch-narzisstischen Industriezeitalter-Menschen, der sich nicht genug geliebt fühlt und der sich durch Lohnarbeit selbst entfremdet ist. Das atomisierte Leben, die von Politik und Wirtschaft gewollte Vereinzelung und Spaltung der Menschen, soll in sozialen Netzwerken durch millionenfache »zwischenmenschliche« Bestätigungen wieder aufgelöst werden.

Soziale Netzwerke haben also weniger eine politische, als vielmehr eine emotional-psychologische Komponente. Sie fungieren weniger als eine digitale Revolution, denn als eine digitale Lotion. Sie schmieren und ölen das eigene Selbstwertgefühl. Das ist, so meine These, auch der Grund für den weltweiten Erfolg von Facebook. Der Vernetzungsaspekt mag für viele zwar wichtig, kann aber nicht der Hauptgrund sein, sich jeden Tag stundenlang auf der Seite zu bewegen. Es ist eher ein Kommunikations-Spielplatz für Neurotiker. Da werden vermeintlich lustige Bilder, Videos und Kommentare millionenfach hin und her geschoben, immer in der stillen Hoffnung, damit Anerkennung (also ein »gefällt mir«) von anderen Usern zu erhalten.

Herdentrieb
Im Shitstorm-Mob bewegen sich häufig die gleichen Menschen, die sich täglich vermeintlich lustige Tiervideos oder Babybilder über Facebook zu schicken. Sie als hochgradig politisiert und damit als digitale Bürgerbewegung zu bezeichnen, halte ich für naiv. Es findet vielmehr eine Selbstinszenierung als Protestbürger statt, ein äußerst bequemer obendrein. Während man früher in einer politischen Partei oder Organisation, einem Verein oder in einer Bürgerinitiative regelmäßig aktiv war, auf Demonstrationen gegangen ist, Protestschreiben, ehrenamtliche Zeitungen oder Magazine produziert hat, Workshops, Seminare und Sitzblockaden veranstaltet hat, sich intensiv mit politischen und wirtschaftlichen Themen beschäftigt hat – macht man heute nach Feierabend via smartphone einen Mausklick, schreibt vielleicht noch einen hochintellektuellen Einzeiler und bezeichnet sich anschließend als »Wutbürger« und »politisch aktiver Mensch«.

»...denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen. Man kann es erleben, dass sie das, was sie gestern bejubelten, heute mit dem Bannfluch belegen [...] Das Endergebnis ist die völlige Zerbröckelung aller Anschauungen und die wachsende Gleichgültigkeit der Massen«

- Gustave Le Bon, »Psychologie der Massen«, Nikol Verlag 2009, Originalausgabe von 1911, S. 141

Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und einem »dabei sein« – Gefühl ist heute sehr ausgeprägt. In den Großstädten sind fast die Hälfte aller Haushalte Ein-Personen-Haushalte, traditionelle Familienbilder und ‑Vorstellungen erodieren und das Ideal des egoistischen Einzelkämpfers, der nur seine Bedürfnisse befriedigt sehen will, ist die heute gelebte dominante Ethik. Umso mehr steigt die bewusste und unbewusste Sehnsucht, nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl, jedoch ohne direkte Zusagen oder Verbindlichkeiten eingehen zu müssen. Lose Bünde quasi, die sich schnell wieder lösen können. Dies zeigt sich bei Online-Spielen in den Gilden und Clans oder im Social Web regelmäßig  beim Versterben prominenter Persönlichkeiten, wie beispielsweise bei Michael Jackson. Shitstorms speisen sich aus der gleichen Motivation heraus: kurzweiliges, gemeinsames motzen macht stark und geben ein gutes Gefühl.

Fazit
Während Unternehmen früher den unzufriedenen Kunden mit einer Service-Hotline, die entweder ständig besetzt war oder nicht auf die Probleme des Kunden entsprechend eingegangen ist, abgespeist haben, machen sich viele Menschen heute im Social Web Luft. Dieses Frust-Ablassen kann schnell in einem Shitstorm ausarten. Viele Firmen nehmen das entweder nicht ernst genug, fühlen sich überfordert oder haben schlicht keine Ahnung von der Eigendynamik der sozialen Netzwerke. Dennoch haben sie Angst vor der sich entwickelnden Aufmerksamkeitsökonomie und einem ernsthaften Imageschaden. Wichtig ist hierbei, dass viele Online-Medien (BILD, SpiegelOnline etc.) mittlerweile gezielt versuchen, durch ihre Art der Aufmachung, der Bilderwahl usw., Shitstorms zu produzieren, um die Klickraten und damit die Werbeeinnahmen zu erhöhen.

Solange sich daraus jedoch keine massenhaft organisierten Konsumverzichte oder Proteste ergeben, sollte man das Phänomen aber auch nicht überbewerten. In der Regel ist es eben mehr ein sehr kurzlebiges gemeinsames Auskotzen (wie z.B. der Twitter-»Aufschrei« bei Rainer Brüderle), als eine politisch-wirtschaftliche fundierte Gesellschaftskritik, die echte Veränderungen an unserer Wirtschaftsordnung oder unserer Gesellschaft fordert.

5 Gedanken zu “Die Shitstorm — Nichtbewegung

  1. Diesen Satz

    > Seit es soziale Netzwerke gibt,
    > hat sich der Stammtisch zunehmend ins Internet verlagert.

    merke ich mir.

    Ich teile Deine Einschätzung, dass es im Wesentlichen um Zugehörigkeit geht, ein Shitstorm gibt neben der tägichen Like-Jagd nochmal einen Kick der Zugehörigkeit.

    Das Bitterste an diesem Phänomen ist, dass hier ein menschliches Grundbedürfnis kommerzialisiert und zur Ware degradiert wird. Auf facebook kann man sich inzwischen die Reichweite der eigenen Beiträge kaufen.

  2. neurotisch-narzisstischen Industriezeitalter-Menschen, ..

    Yoo, trifft voll auf mich zu. Und nicht nur auf mich. Es ist nämlich überhaupt nicht auf social-networks beschränkt. Das sollte man bedenken. Und ist das, was auch immer alle gerne verschweigen. Auch wenn ich vielem zustimmen kann, so riecht mir das stellenweise doch zu sehr danach, dass hier etwas Allgemeines, — zwecks Separation der besseren Menschen, verallgemeinernd in ein Netz digitalisiert wird. Viele Verhaltensweisen sind komplett deckungsgleich, — ganz unabhängig davon ob jemand in einem dieser socialnets ist oder nicht, — und unterscheiden sich lediglich quantitativ sowie technisch. Man sollte in den Spiegel hineinsehen, — ihn nicht umdrehen und von außen bewerten.

    (Sollte natürlich jetzt nicht persönlich oder falsch verstanden werden :-)

  3. Klasse Artikel über soziale Netzwerke.

    Richtig ist auch , daß wir alle von Egozentrik betroffen sind , und doch ist die Kritk mehr als berechtigt , denn in bestimmten Netzwerken wird die Egomanie zum Prinzip erhoben , zu einer Stärke umdefiniert und als erstrebenswert betrachtet.

    Nicht von allen , aber von Vielen , und insbesondere von der ganzen Anlage des Phänomens .
    Und Rudelbildung ist so oder so inakzeptabel , nicht jeder , der egozentrische Tendenzen hat , muß sich eins machen lassen mit einem hochgradig primitiven shitstorm-Pöbel.

  4. aebby, es kommt noch schlimmer. Von wegen nur Werbe-Klick-Einnahmen. Ab sofort kann man sich den Shitstorm auch kaufen:

    »Marketing-Gag oder ernstgemeintes Angebot? Eine deutsche Werbefirma bietet ihren Kunden den gekauften Shitstorm an. Die gesteuerte Empörungswelle in sozialen Netzwerken soll skandalisieren und Unrecht bekämpfen – für bis zu 200 000 Euro.«

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