Wissen, Bildung und Intelligenz an sich sind im marktradikalen Deutschland wertlos. Es muss stets mit Eigennutz, Profitsteigerung und wirtschaftlicher Verwertbarkeit einhergehen. Klug ist, wer marktintelligent handelt. Das bedeutet, sich gut zu verkaufen, viel zu verdienen oder ein großes Vermögen zu besitzen, und sich ökonomisch wertvolles Wissen anzueignen, dass persönliche Vorteile verspricht. Kindergärten, Schulen und Universitäten sind Lehrfabriken, die Menschen markt- und arbeitsfähig machen sollen. Weisheit, Aufklärung und persönliche Perspektiverweiterung dagegen, sind – jenseits einer Marktverwertung – unerwünscht und lästig.
Schon vor über 40 Jahren hat die 68er-Bewegung diesen Zustand in aller Schärfe kritisiert. Heute ist der Ökonomisierungsprozess nicht nur auf die Bildungsinstitutionen beschränkt, sondern hat sich tief in die Lebenswelten der Menschen eingegraben. Ob bei Partnerbörsen, Single- oder Persönlichkeitsmärkten, ob in der Sprache der Liebe, bei Behörden, beim Konsum oder in der Werbung – der materialistische Geld-Habitus beherrscht heute weitgehend die Köpfe der Menschen.
Die Arbeitgeber-Lobbyisten Walter Eberle und Winfried Schlaffke (Deutsches Industrie-Institut Köln) haben im Jahre 1972 auf die Vorwürfe der 68er-Bewegung zum Thema Bildung geantwortet:
»Eine zweckfreie Bildung, die nicht nach der Verwertbarkeit des Wissens fragt, ist überhaupt keine Bildung, sondern nur ein elitäres, intellektuelles Planspiel geistiger Selbstbefriedigung in einem Elfenbeinturm.«
- Walter Eberle/Winfried Schlaffke, »Gesellschaftskritik von A‑Z«, Herderbücherei, 1972, S. 47
Wissen ohne wirtschaftliche Verwertbarkeit ist also kein Wissen, sondern Geplänkel unter Intellektuellen. Damit wird Philosophie, Aufklärung, Kunst, Kultur und humanistisches Gedankengut als wertlos und überflüssig bezeichnet. Wissen hat sich nach der Umsetzung zu Geld zu richten. Das Traurige ist, dass es damals zumindest viele Studenten gab, die sich solch einer Auffassung widersetzt und sich für Aufklärung, alternatives Denken und humane Bildung eingesetzt haben; heute ist die wirtschaftliche Verwertbarkeit das zentrale Kriterium, an dem Ideen gemessen werden. Und das nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern leider auch in der Mehrheit der Bevölkerung.
Die kapitalistische Bildungs- und Wissensverwertung wird heute von vielen als naturwüchsig und alternativlos erachtet. Intellektuellen-Bashing und die Abneigung gegen Künstler, Kulturschaffende und Akademiker, die in erster Linie nicht ans Geld verdienen denken, ist groß in der Bevölkerung. Das zeigt sich vor allem daran, dass Kunst, Kultur und Bildung stets nach einem marktwirtschaftlichen Kriterium gemessen werden: nur was Vorteile im Beruf verspricht oder womit man Geld »machen kann« ist erstrebenswert, alles andere ist nur »Gelaber« und »Wichtigtuerei«.
Ferner ist heute die Aufklärung selbst zum Instrument der Herrschaft geworden, wie es Horkheimer und Adorno schon vor über 50 Jahren formuliert haben. Bildung, Wissen und Aufklärung haben sich in einem streng vorgegebenen Rahmen zu bewegen:
Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.
- Horkheimer/Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, Fischer Verlag 1969, Originalausgabe: New York 1944, S. 12
Ohne die Philosophie der antiken Griechen, wäre die Wissenschaft als Ganzes nie so weit gekommen. Was wäre unsere Welt ohne Künstler, Kulturschaffende und Philosophen, die in erster Linie einem Ideal bzw. einer Idee und eben nicht der ökonomischen Nutzbarmachung gefolgt sind? Eine Gesellschaft, in welcher der Mensch im Mittelpunkt stehen soll und in der Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und Solidarität vorherrschen sollen, kann so nie entstehen. Wer nur daran denkt, alles irgendwie zu Geld zu machen, wird immer ein Sklave materialistischen Denkens sein.
Das Zeitalter der Aufklärung scheint für viele nie existiert zu haben.
Zu Eberle/Schlaffke. Interessant, wie man den Begriff »elitär« gesellschaftlich verschoben hat. (Ich würde sagen, — sogar ziemlich doppelmoralin) In den 70/80igern, hatte der nämlich tatsächlich noch eine negative Konnotation. Durchaus tatsächlich in Hinblick auf die Selbstbeweihräucherungen im Elfenbeinturm. Man betrachte den Begriff heute, ‑und damit auch die heutigen Elfenbeintürme. Zwei Dinge wurden erreicht. Der Begriff »elitär« hat nun eine positive Konnotation, — und der Intellekt ist verschwunden. Lediglich die Planspiele und die Elfenbeintürme sind geblieben. Mangels Intellekt, aber ziemlich grottenschlecht geworden.
wie im hamsterrad...
Die Kritik am blanken Nützlichkeitsdenken hier ist zweifellos berechtigt. Dass aber die 68er uns dahingehend befördert hätten, dies zu ändern, halte ich schlicht für ein modernes Märchen. Für sie und ihre Epigonen, die sich — siehe heute Grüne oder Piraten — nie wirklich gegen die Machenschaften der Geldtreiber gestellt haben, trat einfach die Nützlichkeit des Menschen im Sinne ihrer Ideologie, der Fleischtöpfe neben dem großen Trog der Kriegstreiber — siehe Fischer z.B. — in den Vordergrund.
Ich behaupte, dass wir heute noch weniger freie Forschung und Lehre haben, als vor 1968. Die Befreiung durch die 68er ist ein Mythos. Denn wer heute abweichende Meinungen äußert, wird noch viel härter ausgegrenzt, als ehedem. Der sogenannte »herrschaftsfreie Diskurs« jener ist längst zu einem tragischen Witz verkommen.
@Markus Göller
Richtig, denn sie haben sich nicht durchsetzen können! Es gab keine Befreiung, es gab nur den Kampf darum. Der sog. »Marsch durch die Institutionen« hat nie stattgefunden. Es gab ein paar Karrieristen (wie Fischer etc.), mehr aber auch nicht.
Früher gab es jedoch Widerstand und alternatives Denken gegen den herrschenden Zeitgeist. Heute ist er so gut wie verschwunden. Konsens, Zwangsoptimismus, Resignation, Bequemlichkeit und vor allem Nützlichkeitsdenken beherrschen nicht nur Politik, Wirtschaft und Medien, sondern auch die Masse der Bevölkerung.
@ epikur
»Zwangsoptimismus« gefällt mir in Ihrer Aufzählung am besten. Diesen feinen Begriff hatte ich bislang noch nicht auf meiner Liste. Danke!