Wahrheitsrelativismus

Entgegen unserer Enzyklopädie des relativen Wissens, in der abstrakte Begriffe aus vier verschiedenen Perspektiven definiert und beleuchtet werden, sowie entgegen der allgemeinen Auffassung, die Wahrheit sei stets subjektiv, stellten sich Adorno und Horkheimer gegen den instrumentellen Wahrheitsbegriff:

Es gibt nur einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint.

- Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Fischer 2010, Originalausgabe: New York 1944, S. 229

War Hitler ein Tyrann? Bringen Atombomben Leid und Zerstörung? Sind Soldaten Mörder? Lügen Politiker? War der Massenmord an den Indianern ein Völkermord? Erzeugt der Neoliberalismus weltweite Armut?

Nach geltenden Normen: alles Ansichtssache. Der Wahrheitsrelativismus begünstigt vor allem diejenigen, die Meinungen, Wahrheiten und Einstellungen erzeugen (Werbetreibende, PR-Soldaten, Medien, Politiker, Unternehmen usw.), um eigene Interessen besser durchsetzen zu können. Insofern ist es kein Zufall, dass der Wahrheitsrelativismus die herrschende Lebenseinstellung in Deutschland ist. Ob am Stammtisch, in der politischen Talkshow, in sozialen Netzwerken oder in der Wissenschaft: stets sind sich alle einig, dass die Wahrnehmung der Realität immer die Sache des Einzelnen sei.

Demokratietheoretiker würden vermutlich einwenden, dass es zu einer Demokratie dazu gehöre, wenn verschiedene Interessengruppen, um die Deutungsmacht von Begriffen, Sachverhalten und Meinungen streiten. Es sei das immer widerkehrende Wechselspiel der Kräfte. Mündige und aufgeklärte Bürger würden die Meinungsvielfalt und die Meinungsfreiheit leben. Problematisch sei es nur, wenn eine Ideologie dominieren würde.

Da zum einen der »Markt« immer auf eine Verdichtung und Konzentration hinarbeitet (Oligopole, Monopole, Marktführer usw.) und da in der Regel die Ansichten von finanziell starken Akteuren (Banken, Konzerne, Finanzagenten), Medien, Politik und Öffentlichkeit beherrschen, wirkt dieses Argument eher wie ein demokratisch motivierter Appell, als die Beschreibung von real existierenden Verhältnissen.

Insofern hatten Horkheimer und Adorno Recht: der Wahrheitsrelativismus verharmlost nicht nur die real gegebenen Machtverhältnisse, er fundiert sie auch.

4 Gedanken zu “Wahrheitsrelativismus

  1. Das Problem bei absoluten Wahrheiten ist , daß sich immer Leute finden , die nur die eigene Wahrheit als akzeptabel betrachten und die dann unter Umständen bereit sind , dafür über Leichen zu gehen.
    Die relative Wahrheit bietet die Chance , Dinge in Frage zu stellen und solchen Entwicklungen entgegenzutreten — und nicht zuletzt auch neue Werte festzulegen , ohne daß jedesmal ein Krieg dafür geführt werden muß.

    Richtig ist aber auch , daß die relative Wahrheit nicht Beliebigkeit bedeuten kann , es ist zum Beispiel keine Frage der Beschaffenheit eines Kulturkreises , ob das Foltern von Menschen als legitim gelten kann oder nicht , die Freiheit von solchen Übergriffen ist schlicht ein absolutes Menschenrecht.

    Es kommt stark auf den Einzelfall an ‚vieles , was der Einzelne für unumstößlich hält , ist es bei näherem Hinsehen nicht mehr ganz so sehr — und es kommt auf die zeitgenössischen Umstände an.

    Viele , die heute sagen , Soldaten seine Mörder , hätten das vor 300 Jahren noch nicht gesagt...

  2. Hier ging es mir nicht um relative Wahrheit vs. absolute Wahrheit, sondern darum, dass der Wahrheitsrelativismus im Gewande der Meinungsfreiheit, viel Unrecht (und auch Menschenverachtung) legitimiert.

    Todesstrafe für Kinderschänder? Ausländer sind nur gut für den Obst- und Gemüsehandel? Erwerbslose sind Schmarotzer? Waffenexporte für Diktaturen? Alles Ansichtssache. Lasst den Leuten doch ihre »Meinung«.

    Hinzu kommt, der Wahrheitsrelativismus suggeriert, als gäbe es einen stetigen demokratischen Wettstreit der Meinungen und Ansichten. In Wahrheit dominieren die finanziell Mächtigen sämtliche Diskurse. Viele vermeintliche »Konflikte« sind inszenierte PR-Blasen. Bestes Beispiel: in fast allen politischen Belangen sind sich CDU/SPD/FDP/GRUENE völlig einig.

    @eb

    Dein Artikel passt gut zum Thema.

  3. @eb , @epikur

    »dass der Wahrheitsrelativismus im Gewande der Meinungsfreiheit, viel Unrecht (und auch Menschenverachtung) legitimiert«

    Das ist unübersehbar, und auch bei weniger dramatischen Themen wird gerne aus Prinzip relativiert.
    Wer das praktiziert , hat auch nicht das Prinzip der Meinungsfreiheit verstanden.
    Der Unterschied liegt vielleicht darin , eben nicht aus Prinzip zu relativieren, sondern nur , wenn eigene Überzeugung vorliegt.

    Das Problem bei der Einstufung dessen , was zu den relativen und was zu den absoluten Wahrheiten zu zählen ist , liegt darin , daß man selber sich irren kann.
    Ich persönlich würde nicht alle genannten Beispiele als absolute Wahr-oder Unwahrheiten einschätzen, andere wiederum schon.

    »Alles Ansichtssache. Lasst den Leuten doch ihre »Meinung««

    Werte zur Diskussion stellen heißt nicht , jeden Dreck einfach stehen zu lassen und als gleichwertig betrachten.

    Es geht mir nur darum , daß es womöglich besser ist , Diskussionen offen zu gestalten und damit zu leben , daß eben auch jede menge Schrott geäußert wird.
    In der Hoffnung darauf , daß sich letztlich Ansichten durchsetzen , die vernünftig oder wenigstens erträglich sind.

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