»Es gibt tatsächlich keine Untergrenze bei der Zumutbarkeit«
— DGB-Sprecherin Falk in der TAZ vom 18. Dezember 2004
Das SGB 2 ist die Bibel von ALG2 Sachbearbeitern. In ihr wird z.B. auch festgehalten, welche Lohnarbeit dem Erwerbslosen als zumutbar gilt und welche nicht. Die Zumutbarkeit unterliegt demnach nicht mehr der eigenen Einschätzung und Beurteilung, sondern dem Sachbearbeiter bzw. dem Gesetzgeber. In Kapitel 2 »Anspruchsvorraussetzungen«, § 10, wird die Zumutbarkeit definiert.
Artikel 12 »Berufsfreiheit, Verbot der Zwangsarbeit« des Grundgesetzes besagt:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Die Zumutbarkeitskriterien des SGB 2 widersprechen dem Grundgesetz, auch wenn sich Befürworter auf Absatz 1 des Artikel 12 beziehen würden: Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Damit lässt sich der Gesetzgeber quasi immer ein Hintertürchen, wie im Falle des SGB 2, offen. Absatz 2 und 3 hingegen laufen konträr zu den Zumutbarkeitskriterien im SGB 2:
(2) Eine Arbeit ist nicht allein deshalb unzumutbar, weil1. sie nicht einer früheren beruflichen Tätigkeit entspricht, für die die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ausgebildet ist oder die früher ausgeübt wurde,
2. sie im Hinblick auf die Ausbildung der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person als geringerwertig anzusehen ist,
3. der Beschäftigungsort vom Wohnort der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person weiter entfernt ist als ein früherer Beschäftigungs- oder Ausbildungsort,
4. die Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als bei den bisherigen Beschäftigungen der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person,
5. sie mit der Beendigung einer Erwerbstätigkeit verbunden ist, es sei denn, es liegen begründete Anhaltspunkte vor, dass durch die bisherige Tätigkeit künftig die Hilfebedürftigkeit beendet werden kann.
Die freie Berufswahl wird durch die Zumutbarkeitskriterien stark eingeschränkt. Ebenso bedeuten 1‑Euro-Jobs für die Betroffenen faktisch eine Zwangsarbeit, denn wer sie ablehnt, muss mit Sanktionen und Geldkürzungen rechnen. Der Begriff Zumutbarkeit ist hier ein Euphemismus für Zwang, Druck und Erpressung. Der Erwerbslose wird zu einer stets verfügbaren, entmündigten, umherschiebenden Masse erklärt. Das SGB 2 ist in vielerlei Hinsicht verfassungswidrig. Die Zumutbarkeitskriterien des SGB 2 sind aus dem Geiste geboren, den Niedriglohnsektor und das Lohndumping in Deutschland zu etablieren.
1 Korrektur und 1 Kritik
Korrektur: Das SGB II ist keineswegs die Bibel der Jobcenter- und Sozialamtsmitarbeiter. Viele kennen das Sozialgesetzbuch gar nicht und eine/r hat sich mir gegenüber schon zu dieser Ignoranz bekannt. Die Leute kümmern sich offensichtlich nur um Dienstanweisungen und Software-Bedienungsanleitungen!
Kritik: Das Problem an der Verfassungswidrigkeit des SGB II im Hinblick auf Artikel 12 GG ist vor allem das Wort »Beruf« im Grundgesetz, das eng an »Berufung« geknüpft ist. Das SGB II spricht nur von »Arbeit«, geht zwar kurz auf (Hands-on-)Qualifikation ein, meint aber im Wesentlichen JOB! Der frei zu wählende Beruf hat mit einem Job allerdings überhaupt nichts gemein. Einen Job übernimmt man, wenn man ZUSÄTZLICH Geld haben möchte. Das Wesentliche am Beruf ist aber die Berufung, das Einkommen ist nur wirtschaftsnotwendige Zusatzfunktion. Von der »Zumutbarkeit einer Arbeit« zu sprechen, reduziert den Beruf also auf einen Job, so als würde man »arbeiten, um Geld zu verdienen« — ein geistloser Unfug, dem leider gefühlte 95 Prozent der Bundesbürger unhinterfragt zustimmen würden!
Die Umsetzung im SGB und in der Praxis widerspricht ganz klar der korrekten Interpretation des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Begriff »Berufsausübung« weist die zu überprüfende Richtung.
Die Ausübung bestimmter Berufe kann an bestimmte Voraussetzungen gebunden sein. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, darf derjenige diesen bestimmten Beruf nicht ausüben. Dies gilt jedoch nur für klar definierte Berufe anhand eindeutig formulierter, fundierter Kriterien. Wenn jedoch jegliche Arbeit unter Androhung von Sanktionen verordnet wird, ist dies Zwangsarbeit, welche durch das GG explizit verboten ist.
Beides jedoch, die Einschränkung der Berufsausübung (bei bestimmten fehlenden Voraussetzungen) und die Abschaffung von Zumutbarkeitskriterien ( und damit die Schaffung des Zwangs), sind zwei völlig voneinander unabhängige, unterschiedliche Dinge.
Für Eingeweihte keine Überraschung. Umso trauriger, dass dieser GG-Verstoß auch noch so viele Jahre nach der verfassungswidrigen Einführung und Kritiken daran sowie Klagen dagegen immer noch in Kraft ist.
Der Punkt ist, dass es keine Zumutbarkeit geben sollte, wenn die Arbeitslosigkeit freiwillig wäre. Genau das ist das Kernproblem. Die Verfechter der Hartz Gesetze sind in ihrer VWL Vorlesung nur bis zu den vollkommenen Märkten gekommen. Dort gibt es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Die Realität widerspricht dem zwar, aber Glaube ist eben Glaube. Somit spielt die Zumutbarkeit sehr wohl eine Rolle. Jeden Beruf egal wie schlecht anzunehmen, ist eigentlich mehrfach teuer. Die Zahl der psychischen und körperlichen Erkrankungen nimmt zu, die Berufe werden häufig durch den Staat subventioniert und Steuereinnahmen des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers sind eigentlich nicht großartig zu erwarten.