Neusprech: Ausbildungsunfähigkeit

»Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass jeder junge Mensch, der ausbildungswillig und ausbildungsfähig ist, ein Qualifizierungsangebot erhält, das zu einem Berufsabschluss führt.«

- Berufsbildungsbericht 2010, herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Seite 3

Seit Jahren beklagen Unternehmen, dass viele Jugendliche nicht mehr ausbildungsfähig seien. Gemeint sind damit mangelnde schulische Leistungen, vor allem in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik. Angeblich seien jedes Jahr 25–50% aller Schulabgänger nicht ausbildungsreif. Die Zahlen schwanken, je nachdem ob die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder sich die Bundesregierung zu diesem Thema äußern.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat im September 2005 eine Definition aufgestellt, nach der Jugendliche ausbildungsfähig seien. Zu diesen Eigenschaften und Anforderungen an Jugendliche gehören:

Zuverlässigkeit, die Bereitschaft zu lernen, die Bereitschaft, Leistung zu zeigen, Verantwortungsbewusstsein, Konzentrationsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Beherrschung der Grundrechenarten, einfaches Kopfrechnen, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Höflichkeit, Toleranz, die Fähigkeit zur Selbstkritik, Konfliktfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und zu guter Letzt die Bereitschaft, sich in die betriebliche Hierarchie einzuordnen.

Nach diesen Kriterien zu urteilen, wäre so gut wie kein Jugendlicher ausbildungsfähig. Zur Jugend gehört ein ungestümes, pubertäres und wildes und eben kein marktkonformes Verhalten, wie es sich Unternehmen gerne wünschen. Was Unternehmen mit ihrem Anspruch fordern, ist nichts anderes als die Abschaffung der Jugend. Abgesehen davon, dürfte es so gut wie unmöglich sein, all diese Kriterien bei Jugendlichen zu messen.

Insofern sind die Begriffe Ausbildungsreife und Ausbildungsunfähigkeit nicht eindeutig definiert. Es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass sie politisch und ökonomisch instrumentalisiert werden. Das Schlagwort fällt z.B. häufig dann, wenn Unternehmen kritisiert werden, weil sie nicht genug Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Nach der DGB-Jugend haben rund 1,5 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren keine abgeschlossene Ausbildung. Das sind 15 Prozent dieser Altersgruppe. Im September 2010 haben ca. 130.000 Lehrstellen gefehlt, ohne Schönrechnerei dürfte die Quote deutlich höher liegen.

Hinzu kommt, dass viele Unternehmen ihre Anforderungen an zukünftige Azubis zu hoch ansetzen. Viele Jugendliche sollen am besten schon alles können, damit das Unternehmen ihnen nicht mehr viel beibringen muss und damit Zeit und Mühen sparen kann. Unternehmen benutzen also gern die Phrase der Ausbildungsunfähigkeit der Jugendlichen, um so von ihrer eigenen Ausbildungsunwilligkeit abzulenken.

Interessant ist auch, dass Jugendliche die von der Arbeitsagentur als nicht ausbildungsfähig deklariert werden, nicht mehr in der Statistik der Lehrstellen-Suchenden aufgelistet werden. Zudem werden fast eine halbe Million Jugendliche jährlich in Warteschleifen geparkt, die auch in der offiziellen Statistik der Lehrstellen-Suchenden nicht auftauchen.

Politik und Wirtschaft haben also beide ein Interesse an der Inflation des  Unwortes: »Ausbildungsunfähigkeit«. In der Öffentlichkeit findet indessen nur eine Debatte um die Erziehung und Bildung der Jugendlichen statt. So als liege das Problem einzig und allein an der Dummheit der Jugendlichen: Prinzip Eigenverantwortung.

21 Gedanken zu “Neusprech: Ausbildungsunfähigkeit

  1. In der Politik wird die Schuld einfach weitergeschoben. Wie bei der Reise nach Jerusalem. Es gibt zwar nicht genug Stühle, aber wenn alle schneller rennen und sich mehr anstrengen würden, dann würde jeder sitzen können. Das ist zumindest die Logik der Eliten.

  2. Kinder und Jugendliche sollen in der Schule und Ausbildung doch nicht gebildet werden, sondern für den Arbeitsmarkt dressiert werden. Das Schlimmste, das der Wirtschaft und Politik passieren könnte, sind gebildete und selbstbewußte Mitarbeiter. Heute gilt doch, wer Denken kann ist potentiell im Nachteil!
    Unsere Gesellschaft belohnt den Durchschnitt von unten als lobenswertes Ziel. Es sind die Schlechtesten, die das Maß bestimmen! Und wer dagegen verstößt, der wird bestraft.
    Ich habe mich als Dozent immer bemüht, meinen Schülern selbständiges Denken zu ermöglichen. Dummerweise waren die Seminarbewertungen, die ich erhielt, in der Regel sehr gut — von den Schülern. Allerdings war ich für die Veranstalter, die z.B. davon lebten, Geld für die Ausbildung von Arbeitslosen zu kassieren, ein Störfaktor, den man schlußendlich wegen »Illoyalität« entfernte.

    Man muß begreifen, daß die o.g. Jugendlichen für viele Instutitionen nichts weiter als Manövriermasse sind, mit denen sie ihre Umsätze generieren. Einige vernünftige Ausbildung, angefangen vom Kindergarten bis hin zur Hochschule, würde die ganze Weiter- und Ausbildungsindustrie überflüssig machen. Das muß verhindert werden, also haben wir in Deutschland ein Schulsystem, daß es sozial Schwachen fast unmöglich macht, aus ihrer Lage zu entkommen. Und unsere Politiker und Wirtschaftsbosse sind auch noch stolz auf dieses Schulsystem, so stolz, daß sie in Hamburg mit aller Gewalt eine Chancengerechtigkeit von Schülern verhinderten.

    Anders ausgedrückt, diese Gesellschaft hat Angst vor allgemeiner Bildung und sie hat Angst vor gebildeten Menschen.

  3. Frau Lehrerin, uns ist schon klar, dass die Kids in der Pubertät sind?
    Natürlich.
    Uns ist auch klar, dass in der Pubertät alles möglich ist, bloß nicht das, was wir Älteren ständig so erwarten.
    Sicher, wir waren ja auch mal jung.
    Wieso, verlangt man dann den Kids ausgerechnet am meisten ab, — wenn sie am wenigsten dazu fähig sind?

  4. Und noch ein weiterer, wichtiger Punkt wird diesem Ausgrenzungsfakt anschließend hinzugefügt.

    Nachdem die Jugendlichen erst wegen »Ausbildungsunfähigkeit« keine Lehrstelle bekommen haben (obwohl sie ja sehr gern gewollt hätten) und aus diesem Grund danach keine Arbeit, werden sie am Ende stigmatisiert, indem ihnen vorgeworfen wird, »sie hätten ja nie etwas beigetragen« und deshalb wäre es ungerecht, wenn sie genauso viel Geld (Hartz-IV) bekämen wie jemand, der jahrelang gearbeitet hat.

    Es ist schon eine unglaubliche geistige Fehlleistung, erst jemanden auszugrenzen, um ihm dann anschließend »mangelnde Teilnahme« vorzuwerfen.

  5. Wer ein Handy bedienen kann, mit der Spielkonsole komplizierte Spiele spielt oder auf seinem häuslichen PC Musikdateien aus dem Netzt lädt und speichert oder eine 500W Musikanlage in sein Auto selbst einbaut, der ist meines Erachtens keinesfalls »Ausbildungsunfähig«.

  6. Ich habe selbst schon Eignungstest gesehen, wo die Hauptstadt irgendeines afrikanischen Landes abgefragt wird. Sicherlich ist es schön, wenn man die weiß, aber völlig irrelevant, wenn man z.B. Autos reparieren will oder Wände anmalen. Jugendliche, die frisieren wollen, brauchen doch wohl noch nicht frisieren zu können, was auch verlangt wird, und wenn man ins Büro will ist es vielleicht hilfreich mit 10 Fingern schreiben zu können, aber doch wohl keine Voraussetzung. Manche Jugendliche sind nicht so gut im »Kopf«, aber dafür eher geschickte Handwerker, genau wie umgekehrt. Man sollte Jugendlichen deshalb eine Chance geben, auch wenn sie vielleicht nicht Kopfrechnen können. Ich kann das auch nicht und hatte immer viel mit Zahlen zu tun und war in meiner Tätigkeit qualifiziert. Geduld und das Eingehen auf die jugendliche Psyche würden wohl den meisten eine gute Ausbildung bescheren können, auch zur Freude der Unternehmen, wenn sie denn wollten.

  7. (btw, wo wir grade bei Neusprech sind:
    gehört nicht auch »Neuer Fortschritt« den die sPD jetzt anführt in euer Wörterbuch? Nur so als Anregung)

  8. Ich weiß nicht mehr genau ob es jetzt Trichet oder Juncker war, der kürzlich so einen Spruch rausgekloppt hat (aus dem Gedächtnis von weiß nicht mehr woher zitiert)
    »Wir müssen uns in Europa an den Gedanken gewöhnen, eine Generation heranzuziehen, die völlig chancenlos bleibt und größtenteils in Arbeitslosigkeit oder Gelegenheitsjobs verbleibt«

    Ist ja auch wahrlich völlig alternativlos....

  9. @ unschland das müßte Trichet gewesen sein, hab mir nur gemerkt das es der Chef der Europaischen Zentralbank war *kotz*

    Zitat Epikur

    »Politik und Wirtschaft haben also beide ein Interesse an der Inflation des Unwortes: »Ausbildungsunfähigkeit«. In der Öffentlichkeit findet indessen nur eine Debatte um die Erziehung und Bildung der Jugendlichen statt. So als liege das Problem einzig und allein an der Dummheit der Jugendlichen: Prinzip Eigenverantwortung.«

    Zitat Ende

    Und während (wenn überhaupt) alle debatiern, geben Unionspolitker den Rechten/ Faschisten usw. Munition für ihre »Die Ausländer nehmen euch die Stellen weg« — Argumentation/ Propaganda.

    Zitat http://www.welt.de
    (http://www.welt.de/politik/deutschland/article12294321/Union-will-Jugendliche-aus-Mittelmeerraum-locken.html)

    »Favorisiert werde das Vorhaben auch deshalb, weil die Europäische Union in diesem Jahr die volle Freizügigkeit für Erwerbstätige einführt. „Es ist besser, die Arbeitskräfte aus Europa zu holen, als erneut das Zuwanderungsgesetz für Migranten aus anderen Weltregionen zu ändern“, sagt der CSU-Sozialpolitiker Max Straubinger. «

    Zitat Ende

    »Honni soit qui mal y pense«

  10. am treffensten finde ich hier den Beitrag von gerhardq. Man kann es nicht besser formulieren. Daß das Elternhaus zum größten Teil an einem versauten Berufsstart schuld ist, trifft eher selten zu. Dazu kommt noch, daß Jugendliche Jugendliche sind. Man kann eine angebliche Dummheit nicht mit fehlender Eigenverantwortung gleichsetzen, da der Bildungsprozeß von unserem Schulsystem in sehr viel jüngeren Jahren fehlgeleitet wird. Schaut euch doch die Umfragen an. Jugendliche konnten bei einer Umfrage auf Fotos nicht mal Merkel und Co. erkennen und zuordnen — wissen aber wie man Widgets zu Twitter usw. auf der homepage programmiert oder Musik im Internet (free) downloadet. Davon werden sie nicht leben können und brauchen daher einen Ausweg. Im Moment jedenfalls noch. Denn wenn das System endlich mal umgestellt wird (siehe gerhardq), brauchen wir das nur noch für Legastheniker und so weiter. Das System dieser Bildung ist offen und geschlossen zugleich. Die Abwesenheit von Perspektivlosigkeit bereits im Kindergarten dürfte sich auch auf das häusliche Umfeld auswirken. Wenn sowieso alles schlecht ist, dann leidet auch das Familienleben darunter und die daraus folgenden Umgangsmechanismen wirken sich wieder auf andere Entwicklungen der Jugendlichen negativ aus. Aber — wie oben bei gerhardq beschrieben: Erzählt das mal einem Politiker, der nur die nächste Wahl und seine Diäten im Auge hat. Und nun noch etwas Kritisches mit Diskussionswert: In einem meiner anderen Auslassungen (Gutenberg — Klatsche) habe ich über die fehlende Ausbildung etlicher Politiker in diesem Land geschrieben. Eventuell kennen es ja gewisse Leute nicht anders und brauchen eine Ausbildung.

    1906 entdeckte Sigmund Freud (österreichischer Arzt, Neurologe und Begründer der Psychoanalyse) das Binärsystem, bei einem Gespräch mit seiner Mutter: »Ja..., Nein..., Nein..., Nein..., Ja..., Ja..., Nein...«
    Jack (1985- lebt noch)

  11. »Ich glaube – und hoffe – auch, dass Politik und Wirtschaft in der Zukunft nicht mehr so wichtig sein werden wie in der Vergangenheit. Die Zeit wird kommen, wo die Mehrzahl unserer gegenwärtigen Kontroversen auf diesen Gebieten uns ebenso trivial oder bedeutungslos vorkommen werden wie die theologischen Debatten, an welche die besten Köpfe des Mittelalters ihre Kräfte verschwendeten. Politik und Wirtschaft befassen sich mit Macht und Wohlstand, und weder dem einen noch dem anderen sollte das Hauptinteresse oder gar das ausschließliche Interesse erwachsener, reifer Menschen gelten.«

    Arthur C. Clarke

    Ob Politiker oder Theologen die dümmsten Menschen der Welt sind, ist eine müßige Frage. Sicher ist, dass für beide Berufsgruppen nur solange eine Nachfrage besteht, wie das arbeitende Volk daran glaubt, die Vertreibung aus dem Paradies müsse ein einmaliges Ereignis vor langer Zeit gewesen sein. Herzlich Willkommen im 21. Jahrhundert:

    http://www.deweles.de/willkommen.html

  12. Ausbildungsreife setzt Erwachsensein voraus! Hat mal irgendjemand in DE darüber nachgedacht, warum wohl die meisten Länder ihre Schüler bis zur Volljährigkeit ausbilden?? Dämmert es vielleicht? Wie in einem Entwicklungsland erwartet man in DE immernoch das 13–15jährige Kinder Vollzeit in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen — trotz technischem fortschritt, steigenden Ansprüchen und einer komplexer werdenden und härter werdenden Arbeitswelt.

    vielleicht passt das in Schwellenländer. Die meisten entwickelten Volkswirtschaften da draußen bilden ihre Jugendlichen bis zum Erwachsensein allgemeinbildend aus — dann ist die Reife erreicht und die Kinder wissen dann besser, was zu ihnen beruflich passt!

    nicht ohne Grund bilden die meisten Länder fast alle ihre Kinder bis zur Klasse 1213 lange mit Allgemeinbildung aus.

    das System hinterfragt in DE keiner — hier erwartet man immernoch, dass 13–15 jährige abgeschult und dann Vollzeit ins Arbeitsleben einsteigen. Gleichzeitig bedauert man den armen »Arbeiter« der ja soviel bildungsloser ist als der Akademiker.

    anderswo werden immer mehr Bürger tertiär ausgebildet — Höhere Bildung nach langer Schulbildung. Die schulen ihre Jugendlichen auch nicht mit 15 ab, damit die möglichst schnell arbeiten — und mehr sollen sie dann auch niht können.

    was man hier auf dem Rücken der Kinder macht ist unglaublich — die Naivität wird voll ausgenutzt, hauptsache ne willige Arbeitsdrohne.

    und dann diese unsägliche Berufedressur bei kleinen Kindern ab klasse 5 — unglaublich hier!

    wie in der Dritten Welt! Da schulen sie ja auch nach der Grundbildung Kinder ab.

    und Hauptschulen : die Kinder in den anderen Ländern lernen in dem Alter Allgemeinbildung, nicht nur Berufsbildung!

    http://www.youtube.com/watch?v=jl7p1XZg-qI

    Das Eintrittsalter bei Ausbildungsbeginn steigt stetig — liegt jetzt bei 19,8 Jahren. Das ist ja Abituralter!

    Natürlich will ein Gewinn erwirtschaftender Betrieb Erwachsene — die haben keine Zeit dazu, Kindersitter zu spielen.

    Der STAAT muss solange ausbilden, bis sie erwachsen sind wie anderswo auch.

    und was macht man in DE : Ausbildungsbausteine, Übergangssystem, nicht genug Schulplätze für alle im 2. Bildungsweg.....

    und alle Ausbildungen lassen sie hier auf Hauptschulniveau — anderswo werden die tertiär studiert — die bilden da ihre Staatsbürger lange schulisch aus!

  13. Pingback: Massenarbeitslosigkeit ist systemrelevant - Erwerbslosen Forum Deutschland (Forum)

  14. Pingback: Der Anschlag (12) | ZG Blog

  15. Der Suchbegriff »Ausbildung« führte mich zu diesem Artikel. ;) Da Bernie es grade an anderer Stelle erwähnte: In der modernen Arbeitslosenverwaltung wird einem ja sehr schnell erklärt, dass erworbene Fähigkeiten oder gar Berufsabschlüsse im Grunde nichts wert sind, wenn man mal für etwas längere Zeit arbeitslos war. Weil jede Arbeit sei ja schließlich zumutbar...

    Im Grunde sollte man dann aber auch den Jugendlichen von vornherein reinen Wein einschenken; aufhören, ihnen die dümmlichen Märchen aufzutischen, wonach man nach der Schule unbedingt eine »Ausbildung« machen müsse. Was diese »Ausbildung« dann wirklich »wert« ist, sieht man dann, wenn man das erste Mal nicht vorm Berufsberater, sondern vorm Fallmanager hockt. Und der einem klar macht, dass man sich diese drei Jahre auch hätte sparen können...! Nichts ist sie in Wahrheit »wert«. Absolut gar nichts...!

    Einer der gewaltigsten Widersprüche unseres Ausbildungs- und Lohnarbeitssystems! Vielleicht hat dies ja auch schon der ein oder andere Jugendliche selbst erkannt...!

  16. @ Dennis
    Weil es ein gutes Thema ist, zu dem ich vielleicht etwas mehr weiß: Verstehe ich ebenfalls als die einzig richtige Sache, die man machen sollte — den jungen Leuten, die die Schule — ob in Richtung Ausbildung oder in Richtung Studium, das ist dabei sogar egal — in Kürze verlassen (wollen) reinen Wein einschenken und ihnen eigentlich zu sagen wie aussichtslos ihre Situation eigenlich ist bei dem gängigen System.
    Dass sie konkurieren können mit den bereits vorhanden Erwachsenen, die sich jetzt allein schon schlagen können um die verbliebenen Arbeitsplätze, und dass es durch ihre Anwesenheit auf dem Arbeitsmarkt folglich nicht besser werden wird.
    Nach der Ausbildung wird das der Fall sein, denn die ganze Welt sucht nur Lehrlinge (zwecks Fördergelder von oben) und keine Facharbeiter. Beim Studium verhält es sich mittlerweile ähnlich — weil so viele studieren gehen und vergleichsweise nicht die Mengen von Akademikerstellen existieren, auf die sich so viele ausbilden lassen, können sich die Unternehmen es leisten, sich nur die Rosinen unter den Leuten mit Abschluss herauszupicken; die mit dem 1,0‑Schnitt, die eine Festplatte als Gehirn mit USB-Schnittstelle, kein eigenes Leben und/ oder eine gute ausgereifte Schummelmethode haben.

    Das ganze Gerede von »Zukunft« und »alles wird positiv für dich ausgehen« ist von vorn bis hinten eine eiskalte Lüge, die schon lange nicht mehr funktioniert, bestenfalls noch für die Kinder aus den Bonzenhaushalten funktioniert, weil man sich mit Kontakten, Verwandtschaft und Geld irgendwo noch einkaufen kann.
    Das sind aber in der Regel nicht die Kinder aus den Familien, die sich in den Real- und Gesamtschulen herumtreiben. Das sind die Armen, die Assis, die Arbeiterkinder, die Alleinerziehenden, die Dummen, die Querulanten, die, die sich mit 16 schon vermehren.
    Aber selbst in den Bonzenhaushalten kann man sich diese Botschaft einmal anhören, denn auch irgendwann wird es für ihren Spross zutreffen, spätestens wenn er nicht fähig ist, die Bilderbuchkarriere hinzulegen und etwas dazwischen kommt.

    Die Schiene »gehe zur Schule, mache einen guten Abschluss, mache eine Ausbildung / ein Studium, damit du haben wirst« funktioniert nicht mehr. Alles andere ist nur noch ein totes Mantra, eine Worthülse, die keine inhaltliche Bedeutung mehr hat.
    Und eine Verarschung ist es, die man aufgrund seines jungen Alters und seiner mangelnden Lebenserfahrung glaubt, weil nicht sein darf, was nicht sein darf, dass das Leben schon zu Ende ist bevor man 18 wurde.

  17. Das sind aber in der Regel nicht die Kinder aus den Familien, die sich in den Real– und Gesamtschulen herumtreiben.

    Natürlich nicht; die Bonzenhaushalte haben eben wie du richtig anmerkst für sich einen ganz eigenen, exklusiven »Sozialstaat«, bestehend aus persönlichen Beziehungen und diversen warmen Plätzchen geschaffen. Es kommt in vielen Bereichen oft nur darauf an, den richtigen »Namen« zu tragen...!

    Aber zurück zur »Mitte«: Das Problem ist, dass grade dort dieses Trugbild vom sein Glück allein Schmiedenden am intensivsten »gelebt« wird; wer es nicht schafft, ist dann halt »selbst Schuld«! Grade auch in der unteren Mittelschicht, die im Grunde mit jedem ungelernten Hilfsarbeiter auf einer Stufe steht und den heißen Atem der Konkurrenz im Nacken spürt, ist der Druck auf die eigenen Kinder, (möglichst früh) eine klassische Ausbildung (»egal was«) zu beginnen und abzuschließen und sich als willenlose Drohne in das System einzupassen, eigentlich am Größten. »Flausen« wie der Wunsch zu studieren (gar noch irgendwas, mit dem sich kein Geld verdienen lässt...), treibt man den Bälgern da meist auch sehr schnell wieder aus.

    Was für Auswirkungen das »Rosinenpicken« inzwischen selbst im ÖD haben kann, musste ich ja im Rahmen eines so genannten »Studiums« auch am eigenen Leib erfahren... Wer sich da im elitären, konkurrenzgetriebenen »Ausleseprozess« nicht sinn- und besinnungslos selbstausbeutet, kommt dann eben sehr schnell unter die Räder...

  18. Kann es von meiner Seite aus auch nur so bestätigen; wer mal Gymnasiumskind war, der ist so gut wie nur von Kindern aus dem örtlichen Mittelstand sozialisiert worden, und der hat auch im Nachhinein ein klein wenig Einblick in die Dimensionen, in denen man denkt, wenn man nur damit aufgewachsen ist. — Obwohl, die Maschinerie von »nichts unter ’nem ordentlichen Realschulabschluss und ’ner Lehre« ist mir auch von Leuten bekannt, die selber »nur« die 10-Klassen-Schule besucht haben. Das hat dann aber mehr mit der Sozialisation aus Ost-Zeiten zu tun — wer da zur 8ten abgegangen ist, der konnte von seinen Fähigkeiten her wirklich nicht, oder war wirklich dämlich oder persönlich ein Quertreiber im Sinne wie das auch heute anzutreffen ist (z. B. kein Bock).

    Persönlich kenne ich die Einstellung »Studieren ist brotlose Kunst« aus den Sphären gar nicht. Vielmehr das Gegenteil. Am besten sollst du sogar studieren gehen, weil es die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht, oder, wenn du das Gymnasium nicht schaffst und in der Abiturstufe abgehst, wenigstens dahin arbeiten, dass du die Fachhochschulreife anerkannt kriegst.
    Nicht zu vergessen — überhaupt sollst du das Abitur schaffen, damit stehen dir mehr Türen offen, egal ob es nun eines mit 3,5 ist (und praktisch eher eigentlich wertlos, denn wer so ein schlechtes Abitur hat, das ist nicht gerade leistungsmäßig eine Werbung dafür, dass du besonders viel kannst).

    Was einem aber daraus vertraut ist, ist der Umstand »alle kommen irgendwo unter«. Und nicht nur vom Reden, sondern auch aus der Praxis her. Für genügend aus diesen Sphären funktioniert das System des Wohlstands und des »streng dich an und du wirst was werden« noch.
    Darin würde ich ein großes Potential dafür sehen, dass sich dieser Laden noch am Laufen erhält. Denn diese Schicht Leute, die später einmal die Welt hinausgeht, ist gerade die Schicht, die solch einen großen Wert auf »Reisefreiheit«, Konsum und »alles einmal ausprobieren« legt — die sich das auch erlauben kann. Sprich, bei denen dazwischen nie etwas so heftig schief geht, dass plötzlich Existenzsorgen aufkommen.
    Hinzuzufügen kann man auch noch: Diese Art Schicht von Leuten ist auch durchschnittlich weniger von irgendwelchen Krankheiten betroffen. Die tragen nicht in ihren Zwanzigern oder Dreißigern ihre Eltern zu Grabe, sondern noch ihre Großeltern, weil diese Mitte 80 oder 90 geworden sind. Sie sind auch selbst in jungen Jahren durchschnittlich noch nicht so schnell davon betroffen, dass sie selbst körperliche Krankheiten haben, die sie ausbremsen und das Mantra von »du bist jung, an dir hängt niemand, du kannst tun, was du willst, weil die Welt auf dich wartet« zerbrechen.

    Das sind alles mehr oder weniger gerade die Faktoren, die Leute schnell dazu bringen, ihre Sozialisation zu überdenken und Zweifel zu hegen ob ihrer Richtigkeit im Einzelnen. Aber genau diese machen noch die meiste Zeit um diese Gesellschaftsschicht einen großen Bogen.
    Wenn du dazwischen »aufwächst« oder sozialisiert wirst, als Erwachsener betrachtet ist es kein Wunder, dass du dir dazwischen wie ein Alien von einem anderen Stern vorkommst, wenn du — mit deinem Leben oder aus der Theorie heraus — zu ganz anderen Erkenntnissen kommst, was Thema »potentielle Zukunft« anbelangt.

  19. @matrixmann

    Die Entfremdung von Kindern und Eltern geht in beiden »Schichten« hervorragend. Wächst Du in einer klassischen Arbeiterfamilie auf und willst studieren, ist das für sie brotlose Kunst, verschwendete Zeit oder Du willst Dich »vor der Arbeit drücken«. Wächst Du in einer Akademikerfamilie auf, ist studieren quasi Pflicht. Sagst Du dann, Du willst beispielsweise eine Ausbildung zum Polizisten oder Tischler machen, wird das mit ziemlicher Sicherheit zu heftigen Konflikten innerhalb der bürgerlichen Familie führen.

    In beiden Fällen erfolgt eine starke Entfremdung der Kinder zu den Eltern. Und das wieder mal nur, weil viel zu viele Eltern ihren Kindern bei der Berufswahl keine freie Entscheidung lassen, sondern immer und überall reinquatschen müssen. Schließlich »wollen sie nur das Beste« für ihre Kinder. :sick:

  20. @epikur
    Das hat nicht nur den Grund, dass Eltern gern einen »Stammhalter« wollen, der in ihre Fußstapfen tritt.
    Mir ist das mal in einem One-Liner sehr treffend aufgefallen: »Was der Kapitalismus nicht hinbekommen hat, ist, dass du als Kind unabhängig von deinen Eltern arbeiten kannst.« Die Sache hat noch diesen materiellen, finanziellen Haken. Kommst du aus einer Mittelschicht-Familie, die dich beim Studium noch unterstützen kann, ist es für dich wesentlich leichter, ein Studium anzugehen und bis zum Ende durchzuziehen, weil du finanziell mit besseren Voraussetzungen hineingehst.
    Sind deine Eltern »nur« Arbeiter oder gar aus der Unterschicht, und brauchen ihr Geld, was sie haben, schon für sich allein, dann hast du automatisch immer die Sorge der Absicherung von dieser Front im Nacken.
    Nicht zu erwähnen, Bafög ist ja schließlich auch kein reines Geschenk. Davon darf man die Hälfte (war es das?) auch wieder zurückzahlen, wenn man mit dem Studieren fertig ist. So was nennt man danach auch eine »zusätzliche Belastung«, die Kinder aus Bourgeoisen-Familien nicht haben.
    In der DDR hat man diesen Aspekt soweit im Griff gehabt und du konntest auch ernsthafte Chancen wahrnehmen, dich von deinem Elternhaus zu emanzipieren, wenn es für dich nötig war und du unbedingt wolltest — und generell wollte man es auch nicht, so wie heute, dass Kinder noch mit 30 von ihren Eltern in irgendeiner Form abhängig und keine richtigen Erwachsenen sind. Was da nur nicht im Griff war, war diese Paranoia des Staates und die politische Sippenhaft — nur weil die Eltern Abweichler vom Staat waren, dass die Kinder automatisch auch davon Nachteile haben konnten, auch wenn diese pauschal mit den Ansichten und Vorstellungen ihrer Eltern erst einmal gar nichts am Hut hatten.
    Zumindest war es dort auch möglich, aus einem Assi-Elternhaus auch in die normale Arbeiterklasse aufzusteigen, vielleicht sogar noch mehr, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben waren. Was heutzutage beinahe schon unmöglich ist — weil du daran gebunden bist, welche Voraussetzungen deine Eltern dir mitgegeben können. Geben sie dir nichts mit — maximal guter Überlebenswille, hohe Intelligenz und sehr viel Eigenarbeit können dir heute noch etwas bringen. Etwas Glück braucht man nicht erwähnen, weil du darauf keinen Einfluss hast.

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