Anja G. arbeitet seit mehreren Jahren in einem Montessori-Kindergarten in Berlin. Sie hat insgesamt mehr als zehn Kinder eingewöhnt, betreibt Vorschularbeit, macht regelmäßig Elterngespräche sowie Entwicklungsgespräche und arbeitet in der Kleinkind-Pädagogik. Das Interview wurde am Samstag, den 3. September 2011 geführt.
epikur: Wie sieht die konkrete Bildungsarbeit mit Kleinkindern aus?
Anja: Ich sehe die zentrale Aufgabe einer Kindertagesstätte (= erste Bildungseinrichtung) darin, Kinder in ihrer Beziehungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Erst wenn sich das Kind aufmerksam mit seiner Lebensumwelt auseinandersetzt, geschieht Lernen. Das aber setzt emotionale Ausgeglichenheit, das Frei sein von Ängsten und mit sich selbst in Einklang zu sein voraus. Hier schon beginnt die Bildungsarbeit.
Weil sich das kleine Kind am Erwachsenen bzw. Menschen orientiert, passiert Bildungsarbeit mit ihren Inhalten immer personengebunden. Um zu konzentrierter Aufmerksamkeit zu gelangen bedarf das Kind an emotionaler Sicherheit in Form einer dauerhaft verlässlichen Bezugsperson ( = Eltern/ Erzieher(in)), die Halt und Orientierung gibt, sowie vertraute Spielräume, die dem Kind Autonomie bzw. Selbstbestimmung zugestehen.
Viele Bildungsinhalte eignen sich die Kinder spielend unbewusst im alltäglichen Leben an. Sie beobachten, experimentieren und nehmen an der Erwachsenenwelt teil. Durch gezielte Angebote des Erwachsenen lässt sich das kindliche Lernen unterstützen. Das Wissen erfahrbar und »be- greifbar« machen ist hierbei sehr wichtig.
epikur: Was sagst Du zu der These dass viele Eltern die Kita mehr als eine Art »Abschiebebahnhof« für ihre Kinder und weniger als Bildungseinrichtung verstehen?
Anja: Im Laufe meiner Arbeit habe ich schon einige Familien mit ihren Kindern kennen gelernt. Ich durfte schöne Momente mit ihnen teilen aber auch Sorgen und Nöte miterleben. Sehr viele sind engagiert was die Entwicklung ihrer Kinder sowie auch die Gesamtbelange der Kindereinrichtung betreffen. »Abschiebebahnhof« klingt für mich zu hart. Vielmehr habe ich die Erfahrung gemacht, dass wenige Eltern die Kita als eine liebevolle »Aufbewahrungsstätte« sehen. Doch sie ist und sollte doch viel mehr als das sein!
Der Kindergarten verfolgt einen Bildungsauftrag! Er unterstützt die Kinder ganzheitlich in ihrer Handlungs‑, Bildungs– und Lernfähigkeit. Diese Kompetenzen sind für das spätere Leben und Lernen von großer Bedeutung. Das Kind braucht Vorbilder für sein eigenes Handeln. Das Leben mit seinen Herausforderungen, auch innerhalb einer Gemeinschaft mit ihren sozialen Regeln (Normen und Werte) muss »gelernt« werden. Die Erzieher(innen)/ Erwachsenen in der Kita arbeiten mit diesem Bildungsauftrag.
Sie wertschätzen das Kind, nehmen es als Gesprächspartner ernst und bieten ihm den Raum sich selbstbestimmt seiner Bedürfnisse zu entfalten. Erzieherinnen geben dabei natürlich auch einen feststehenden, klaren Rahmen (Regeln) zur kindlichen Orientierung vor, damit die eigene Freiheit des Tuns die Freiheit der anderen nicht einschränkt!
Somit bleibt es nicht aus, dass Kinder sich an vielerlei Regeln des menschlichen Zusammenseins halten und ausleben müssen. Das zeigt, dass auch sie viel kognitive Arbeit zu bewältigen haben, welche Konflikte mit einbezieht! Ich vergleiche zu Recht den Kita- Alltag mit dem Vollzeit- Arbeitstag eines Erwachsenen!!!
epikur: Ab welchem Alter sollte man ein Kind in die Kita geben und wie lange sollte man es täglich in der Kita lassen?
Anja: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Es spielen doch mehrere Faktoren eine Rolle! Vielen Eltern ist es gar nicht möglich ihr Kind länger als ein Jahr zu Hause zu betreuen, denn das Elterngeld wird ein Jahr während der Elternzeit ausgezahlt. Somit kommen viele Eltern gar nicht in den Genuss ihr Kind längerfristig selbst zu betreuen und zu bilden (ich spreche da aus eigener Erfahrung). Auch die Dauer der Betreuungszeit richtet sich natürlich nach den Arbeitszeiten der Eltern. Also ist der Kitaeintritt eine individuelle Entscheidung, die jede Familie sicherlich auch nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen treffen muss.
Natürlich sollten Eltern grundsätzlich ein gutes »Gefühl« dafür haben, zu welchen Zeitpunkt sie ihr Kind außerhalb der geschützten Familie betreuen lassen wollen.
Die Kinder spüren eventuelle Unsicherheiten ihrer Eltern selbst in der Eingewöhnung. Diese wird dann sehr erschwert und die Kinder haben Schwierigkeiten die Erzieherin als Bezugsperson anzunehmen und zu akzeptieren. Dies wird dann in den ersten Trennungsversuchen deutlich (»meine Mama ist traurig, dass sie gehen muss«...)
epikur: Was zeichnet eine gute Erzieherin bzw. einen guten Erzieher aus?
Anja: Um den Aufgaben einer »guten Erzieherin« gerecht zu werden, muss die innere Haltung zum Kind stimmen. Für mich bedeutet dies, dass ein Erzieher, ob Eltern oder die Bezugsperson innerhalb einer pädagogischen Einrichtung dem Kind Wertschätzung entgegenbringt, denn umgekehrt erwartet der Erwachsene dies ja auch vom Kind. Das verlangt vom Erzieher Selbstreflexion und das sich-zurücknehmen.
Wichtig ist, dass sich Pädagogen ganzheitlich auf die Persönlichkeit des Kindes (mit all seinen Fähig- und Fertigkeiten) einlassen können und diese akzeptieren und respektieren.
Ein guter Erzieher sollte die Fähigkeit zur Beobachtung besitzen, denn die Beobachtungsgabe ist für mich eine Grundqualifikation des Erziehers. Mit ihr kann er das einzelne Kind in seiner Entwicklung wahrnehmen und eine entsprechende Lernumwelt schaffen.
Ein weiteres wichtiges Merkmal eines »guten Erziehers« wäre das Zuhören-Können. Ein Erzieher sollte auf kindliche Äußerungen genau eingehen und ihm genügend Freiraum für eigene Entscheidungen gewähren, denn nur so verhelfen sie dem Kind zu kreativer Arbeit oder gar zum schöpferischen Lernen.
epikur: Anja, ich danke Dir für das Gespräch!
Eine Zusammenfassung der ersten zehn Teile der Kinderserie ist auf www.zeitgeistlos.de zu finden. Alle bisherigen Folgen können im ZG-Blog in der Rubrik Kindheit gefunden werden.