Kinder in Deutschland; Teil 12: Der Pädagogik-Sarrazin

Im Jahre 2008 erschien das Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden vom Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff. Auf der Jahresbestsellerliste des Spiegels landete das Buch 2008 auf Platz 4. Mittlerweile wurden über 450.000 Exemplare verkauft. Seine zentralen Thesen lauten, dass Kinder in Deutschland verwöhnt werden, ihnen zu wenig Grenzen gesetzt werden, man auf ihre Bedürfnisse zu viel eingehen würde und dass man Kinder vor allem partnerschaftlich, also wie kleine Erwachsene behandeln würde. So weit kann man Winterhoff teilweise zustimmen. Allerdings ist dies nur eine Seite der Medaille. Vernachlässigung, Gewalt, Armut und autoritäre Erziehung sind ebenfalls nicht folgenlos. Winterhoff schreibt zwar in der Einleitung, dass er weder ein Anhänger der autoritären Schule sei und dass er auch keine Schulddebatte führen möchte, trotzdem kommt beides zwischen den Zeilen immer wieder vor. Schwer nachvollziehbare konstruierte Kausalitäten, Unwissenschaftlichkeit und schiefe Vergleiche runden das Werk ab.

Gleich in der Einleitung beschwört Winterhoff das apokalyptische Untergangsszenario:

Wir befinden uns mittlerweile in einem Ausnahmezustand, in dem Kinder zu Erziehern ihrer Eltern geworden sind und diese rein lustbetont steuern können, ohne Grenzen aufgezeigt zu bekommen.

- Michael Winterhoff, Warum unsere Kinder Tyrannen werden, Mosaik bei Goldmann, 8. Auflage, Januar 2010, Seite 14

Was also fehlt ist die harte Hand. Oder besser: die Hierarchie muss wieder eindeutig klar gemacht werden. Reformpädagogiken und die 68er haben versagt:

Schwierigkeiten bereiten zunehmend Kinder und Jugendliche, deren Eltern vom ersten Tag an liebevoll mit ihnen umgehen, für jeden gut gemeinten Erziehungsratschlag dankbar sind, und innovative pädagogische Konzepte in die Tat umzusetzen versuchen (S. 16)

Kein Wort von vernachlässigten Kindern.Von Kindern, die mit Gewalt, in Armut, mit Mobbing, mit wenig Zuneigung usw. aufwachsen. Kein Wort zur beruflichen Perspektivlosigkeit von Jugendlichen. Er betont immer wieder die Wichtigkeit der Hierarchie zwischen Kindern und Erwachsenen. Wohl gemerkt, nicht nur von Kindern und ihren Eltern, sondern eben auch anderen Erwachsenen. Kinder sollten sich z.B. nicht rausnehmen über Erwachsene schlecht zu reden, Kinder sollten sich aus Erwachsenendingen raushalten und es soll eine »unsichtbare Mauer« zwischen Kindern und Erwachsenen vorherrschen (S. 101).

Der Autor wehrt sich erbittert dagegen, in die Schublade eines Befürworters von autoritären und reaktionären Erziehungsmethoden gesteckt zu werden, beweist aber mit seinen Aussagen, dass er ein Anhänger der autoritären Schule ist. Der Begriff »reaktionär« sei schließlich über die Jahre ein »pervertierter Autoritätsbegriff« geworden (S. 176). Reaktionär, konservativ, autoritär — alles eigentlich gar nicht so schlecht, wie es von linken Spinnern und Reformpädagogen gemacht wird.

Abenteuerlich wird es, wenn Winterhoff Kausalitäten erzeugt, um seine Thesen zu untermauern:

Kinder werden geliebt, das scheint außer Frage zu stehen (S. 98) [...] Kinder genießen prinzipiell einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. [...] Die Tendenz ist heute erkennbar: Kinder werden als störend empfunden, als Belastung der Gesellschaft und werden in der Konsequenz abgelehnt. Immer häufiger tauchen in den Medien Berichte auf, über Jugendliche, die »keinen Bock haben« arbeiten zu gehen, stattdessen auf ihr Recht auf Party und Selbstverwirklichung plädieren. (S. 178)

Die Kausalität, dass Kinder und Jugendliche abgelehnt werden, weil sie vermeintlich »zu faul« wären, ist ein Medienmythos. Hier wird die Verantwortung, wie es Medien, Politiker und Unternehmer gerne machen, einfach umgedreht. Nicht die Strukturen des Arbeitsmarktes, die Industrie, die Unternehmen und die fehlenden Ausbildungsplätze sind schuld, sondern die komasaufenden Jugendlichen. Sie saufen nicht, weil sie resigniert haben, keine Zukunft für sich sehen, sondern weil die Eltern zu lasch sind und weil sie sich mit Komasaufen selbstverwirklichen wollen? Der Autor verliert im ganzen Buch nicht ein Wort zu über 2,5 Millionen Kindern in Deutschland, die in Armut leben. Er geht wohl davon aus, dass Deutschlands Kinder bis zum Abwinken alle verwöhnt und gepampert werden.

Kinderfeindlichkeit in Deutschland hat viel mit Egoismus, Materialismus und Eigennutz zu tun. Wenn Kinder in der Öffentlichkeit laut schreien, auf der Strasse spielen oder nach Aufmerksamkeit, Bestätigung und Liebe verlangen, sind Menschen schnell genervt und kinderfeindlich. Das hat herzlich wenig damit zu tun, dass Jugendliche vor sich selbst und der Arbeitswelt resigniert haben oder vermeintlich »faul« wären. Allein die These, dass Kinder in Deutschland geliebt werden, widerspricht schon der Tatsache, dass immer weniger Menschen in Deutschland Kinder in die Welt setzen wollen. Kinder an sich werden als belastend, störend und nervend empfunden. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil Kinder eben keine Erwachsenen sind. Weil sie in der Öffentlichkeit nicht angepasst sind, weil sie nicht funktionieren, weil sie Fragen stellen, neugierig und wissbegierig sind. Weil sie gerne Kinder sein möchten.

Ich stimme ihm zu, dass viele Eltern gegenüber ihren Kindern wenig konsequent sind und sich über ihr Kind definieren, d.h. in erster Linie von ihrem Kind geliebt werden möchten und insofern aus Bequemlichkeit, Harmoniesucht und Kinderliebe, Konfliktsituationen mit ihren Kindern aus dem Weg gehen (S. 132). Dieses Phänomen ist weit verbreitet und hat die Folge, dass Kinder konfliktunfähig werden, also keine Konfliktkultur pflegen. Viele Eltern bevorzugen die (scheinbare) familiäre Harmonie, als an die langfristige Entwicklung ihres Kindes zu denken. Die mangelnde Konfliktkultur vieler kann man auch im hohen Alter noch bewundern: da wird kaum sachlich und konstruktiv diskutiert, da wird entweder das Problem totgeschwiegen oder es fliegen die Fetzen.

Gegenüber den eigenen Kindern konsequent sein, ihnen Grenzen aufzeigen, wenn es angebracht ist und viel mit ihnen darüber sprechen ist zweifellos wichtig. Kinder sollten dennoch nicht von oben herab »beherrscht« werden. Man kann nicht von Kindern Respekt erwarten und ihn im gleichen Atemzug den Kindern verwehren, wie Winterhoff es in seinem Buch für richtig hält. Besitz- und Leibeigenschaftsdenken, »es ist mein Kind«, stecken dahinter.

Insgesamt ist das Buch zu einseitig, zu oberflächlich und zu polemisch geschrieben. Für alle, die eine Bestätigung brauchen, dass ein kleiner »Klaps auf den Hintern« (S. 18) manchmal gar nicht so schlecht ist, dass früher alles besser war und dass ja nicht alles an der autoritären Erziehung falsch ist, der kann sich das Werk beruhigt zu Gemüte führen. Mittlerweile hat Winterhoff sein drittes Buch veröffentlicht, indem er die »Tyrannen-These« immer wieder reproduziert. Michael Winterhoff ist der Thilo Sarrazin der Pädagogik.

Eine Zusammenfassung der ersten zehn Teile der Kinderserie ist auf www.zeitgeistlos.de zu finden. Alle bisherigen Folgen können im ZG-Blog in der Rubrik Kindheit gefunden werden.

5 Gedanken zu “Kinder in Deutschland; Teil 12: Der Pädagogik-Sarrazin

  1. Wie anders verhält sich dagegen die Pädagogik von Janusz Korczak:

    Ab 1911 leitete Korczak das nach seinen Plänen errichtete Waisenhaus Dom Sierot. Hier entwickelte er aus der refektierten Praxis heraus seine Vorstellungen von Erziehung als einer Utopie von einer friedfertigen, klassenlosen Gesellschaft. Denn für Korczak war die Welt bisher eingeteilt in zwei Klassen : in Erwachsen und Kinder. Zwischen beiden herrschte ein Kampf — allerdings ein Kampf von Ungleichen, denn die Kinder waren in diesem Kampf hoffnunglos unterlegen.

    Das gemeinsame gesellschaftliche Los der Kleinen ist die Kindheit, die Korczak ihnen und den Erwachsenen bewusst machen will. Hier beginnt der grosse wichtige Klassenkampf der Menschheit. Denn bis in Korczaks Zeit hinein war das Kind nur der Noch-nicht-Erwachsene, ein artig dressierter, willen- und rechtloser, erst in der Zukunft ernst zu nehmender Mensch, ein Projektionsobjekt von Eltern für im eigenen Leben nicht Erreichtes. Wir Erwachsenen, schreibt Korczak sinngemäss, haben uns so eingerichtet, dass die Kinder uns möglichst wenig stören, möglichst wenig ahnen, wer wir eigentlich sind. So verweigern wir uns. Zugleich kennen wir natürlich den Weg zum Glück. Wir geben Hinweise und Ratschläge, wir lenken und korrigieren, das Kind tut nichts, wir tun alles. Wir befehlen und verlangen Gehorsam. Es sind ja unsere Kinder, unser Eigentum. Gibt es in der Geschichte wohl ein Beispiel für ähnliche Tyrannei?

    Hier gibt es den vollständigen Text:

    http://www.janusz-korczak.de/korczak_wer_war.html

  2. Das dumme ist, das einige Kinder tatsächlich die harte Hand brauchen, eine Führungsperson. Es regt massiv auf, wenn solche Thesen auch teilweise (in Bruchstücken) wahr sind. Darauf wird dann immer wieder herumgeritten und gar nicht mehr über weitere vertiefende Fragen und Folgen dieser Rückschritte in die schwarze Pädagogik diskutiert.

    Man sollte hier auf den alten Konflikt hinweisen, der in Deutschland, dem Land der Herrscher und Beherrschten, begründend ist für diesen Diskurs. http://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer Johanna Haarer ist wohl mitverantwortlich für die Mißhandlung von vermutlich Millionen Kindern und jene Leute wie Winterhoff, die eine weichgespültere Variante dieser klassischen systematischen Kindesmißhandlung durch despotische Erziehungsmuster predigen, stehen in den Fußstapfen dieser herzlosen Erziehung, die aus Kindern beherrschte Wesen macht. Wer heute noch auf diesem Niveau versucht Kinder-Erziehung zu propagieren, sollte sich freimütig einer Selbstanzeige wegen Aufforderung zur Kindesmißhandlung ergeben.

    Ohne boshafte Unterstellung kann man davon ausgehen, das dieser Mann keine Ahnung hat, sich aber dennoch zum Ratgeber aufspielt.

    Herzlose und lieblose Unterwerfungsverziehungsstrukturen, die ihren Höhepunkt in den Ideologien des dritten Reiches fanden, dürfen nicht wieder belebt werden!

    Wer sich nicht um die emotionalen Bedürfnisse seiner Kinder kümmern kann, dem kann ggf. geholfen werden. Wer aber diese Unfähigkeit mit winterhoffschem Despotismus gegenüber seinem Nachwuchs zu kompensieren versucht, ist nicht besser als ein Schläger, der seine Kinder prügelt und foltert, selbst wenn er dies nicht tatsächlich ausführt. Seelenpein ist genauso Mißhandlung wie körperliche. Und das sollte jeder offen jedem sagen, der die Unverschämtheit besitzt Kinder in ein solches Konzept von LAW and ORDER zu pressen, wie es die neu auferstehenden Disziplin-Pädagogen machen (wollen).

    Zwei Artikel habe ich mitverlinkt, mit denen ich mich dazu gerade eingelesen habe. Ich weiß noch, wie extrem die Gegenstimmen zu Winterhoffs Kassenschlager waren und es scheint mir wichtig, hier deutlich zu machen das das Resümee des Blog-Artikels genauso bei fachkompetenten Personen anzutreffen ist.
    Bei dieser Diskussion geht es wirklich um sehr viel mehr als nur eine Rezension oder trockene Entwertung eines Pädagogen-Stümpers.

    http://www.aktion-humane-schule.de/Rez-Winterhoff__RengerSchuster_.pdf

    http://www.sueddeutsche.de/leben/kindererziehung-zur-hoelle-mit-der-disziplin‑1.473754–2

    MFG

  3. @Hannzi

    Danke für die Links. Sie bringen weitere Aspekte in das Thema. Besonders treffend finde ich folgende Sätze:

    Auf der Grundlage von Beziehungslosigkeit soll hier Beziehungsfähigkeit erzwungen werden. [...] Das Problem ist: Wenn man seine Kinder immer nur auf Disziplin drängt, so kommt vieles andere dabei zu kurz. [...] Familien kämpfen auch gegen eine zutiefst kinderfremdelnde Welt. Kinder stören, das ist immer noch so. Das macht Eltern unsicher. Wenn zwei Kinder durch die Hotellobby rasen, dann schütteln viele darüber insgeheim empört den Kopf. Solche Leute sind die eigentlichen Fans sogenannter Disziplinpädagogen — und ein Hauptgrund für deren Erfolg.

  4. Kinder in Deutschland, welche Kinder? Alle Kinder?

    »ene mene muh und raus bist du«
    auf yutube oder videogolg

    Kula Projekt aus Hamburg hat in Zusammenarbeit mit dem Kulturladen Sankt Georg im Rahmen des Socialmedia Awards 2010 einen Kurzfilm gedreht und sich beworben, sehr kritisch, zu kritisch vielleicht.

  5. Nicht vergessen!

    1.)Der Mann ist Kinder- und Jugendpsychiater.
    Der bekommt die Kinder also dann zu sehen, wenn sie schon behandlungsbedürftig erkrankt sind incl. ihrer wohl auch etwas disfunktionalen Eltern.
    (Witz am Rande: V. Braunmühl schrieb in »Antipädagogik« von den damaligen Antipsychiatern, die ihren erkrankten Patienten mehr zutrauten als der gemeine Pädagoge seinen (noch) gesunden Zöglingen, die die »Kindheit« erleiden)

    2.)Fachrichtung Tiefenpsychologie.
    Aus der Analyse der Missstände eine taugliche Therapie abzuleiten, hat schon beim Sigi nicht so hingehauen. Wenn man Alice Miller Glauben schenken mag, leiden wohl viele tiefenpsychologische Therapeuten an Persönlichkeitsstörungen, die den narzisstischen Frühstörungen zugerechnet werden. Empathisch begabte Kinder, die sich im vorauseilenden Gehorsam seelisch prostituieren und so verbiegen, abspalten, ausmerzen, dass sie den Eltern jeden Wunsch von den Lippen ablesen und sofort erfüllen können. Einfach brav. Nachdem sie dann als Psychokrücke für die Eltern herhalten durften, machen sie aus der natürlichen und durch entsprechendes Lob verstärkten Begabung eine Profession. Klar dass es Winterhoff wohl übel aufstößt, wenn er also Kinder behandelt, die empathisch genug sind, um auf der Klaviatur der elterlichen Gefühle so zu spielen, dass sie bekommen, was sie wollen, nicht nett, nicht brav.
    Nur folgerichtig, dass bei der nicht ausgelebten Kindheit aus der Not eine Tugend gemacht wird und Erziehungsratgeber autoritärer Denke die Folge sind (incl. Klaps=Aufforderung zu einer Strafttat).
    Ob mit der Bekämpfung der kleinen Tyrannen da wohl unterbewusst eine symbolische Verschmelzung mit den elterlichen Grundsätzen vollzogen wird? Oder ist das Teil des Abwehrkampfes gegen die eigenen unausgelebten, infantilen Triebe, die seine Hauptklientel umtreiben, auf die er aber insgeheim neidisch ist? Müsst ich ihn auf der Couch für haben...

    3.) Der Typ verdingt sich bei den Bertelsmännern als Mietmaul
    http://www.referentenagentur-bertelsmann.de/speaker/212260/
    Alleine das sollte einen stutzig machen, selbst wenn man seinen Problembeschreibungen noch folgen kann. Geht’s den Bertellsmännern da wohl evtl. um die Heranzucht von untertänigem Maschinen- und/oder Kanonenfutter? Die Amis haben die Tigermutter und wir kriegen den (ist mir aber erst in zwei Talkshows übel aufgestoßen).
    Ob Winterhoff wohl was mit »Reparaturbetrieb des Kapitalismus« anfangen könnte? Also einer kritischen Hinterfragung seines Treibens?

    (PS: Ich halte Winterhoffs Thesen für teilweise zutreffend, wenn auch eher auf bessersituierte Gutbürgerliche zugeschnitten, wo man noch Anspruch und Muße hat, das Kind als Fetisch aufzuladen. Punk und Delinquenz sind ja nun mittlerweile auch in verbeamteten Kinderzimmern beheimatet.
    Ich schätze, dass die Familien, in denen beide Eltern in 5–6 prekären Minijobs über die Runden zu kommen versuchen, nicht in seiner Praxis aufschlagen.)

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