Das Prinzip Eigenverantwortung als Euphemismus für Sozialabbau, Egoismus und Solidaritätsabbau ist in Politik, Wirtschaft und Medien weit verbreitet. Die Menschen sollen mehr Eigenverantwortung zeigen, heißt es, wenn sich Lebensrisiken verschärfen und es vielen Menschen ‑durch politisches und unternehmerisches Handeln- in Deutschland immer schlechter geht. Oder anders ausgedrückt: ihr seit selbst schuld! Uns trifft keine Schuld! Interessant ist, wie eigenverantwortlich Politiker, Unternehmen und Wirtschaftseliten eigentlich sind?
1.) Wenn z.b. Züge und Busse des öffentlichen Nahverkehrs reihenweise ausfallen, weil es mal wieder kälter wird und Schnee fällt, weil eben Winter ist (sic!) — wer hat dann die Verantwortung für das Verkehrschaos? Natürlich nicht die Verkehrsbetriebe, die uralte Maschinen haben und sie nicht ausreichend warten, sondern der böse Winter ist schuld, die technische Störung, also höhere Gewalt.
2.) Wenn Arbeitsplätze zu tausenden verlagert oder gestrichen werden, ist natürlich nicht die Profitgier der Unternehmer dafür verantwortlich, sondern die Globalisierung: »die Wettbewerbsfähigkeit verlangt es von uns, Sie verstehen? Sie haben aber gute Arbeit geleistet!«
3.) Wenn wir in Zukunft eine große Altersarmut haben werden, weil die Rente mit 67 zu massiven Rentenkürzungen führen wird, ist natürlich nicht die Politik dafür verantwortlich, sondern der demographische Wandel. Die Menschen werden eben immer älter, also können sie auch länger arbeiten, auch wenn nur ein Bruchteil mit 60 Jahren noch Lohnarbeit hat. »Das System erwartet von uns, dass wir so und nicht anders handeln«.
4.) Wenn Mitarbeiter der Arbeitsagentur ALG2-Empfänger schikanieren, drangsalieren und sanktionieren, sind sie dafür natürlich nicht verantwortlich: »die Gesetze sind halt so, verstehen Sie? Ich habe doch nichts gegen Sie persönlich!«
5.) Für die Banken- und Wirtschaftskrise waren natürlich auch keine gierigen und egoistischen Bänker, Spekulanten, Unternehmensberater, Aktionäre und Finanzhaie verantwortlich. Auch die neoliberalen Ökonomie-Professoren haben ja nur ihren Job gemacht. Schuld waren doch die Amerikaner.
Die Beispiele lassen sich endlos fortsetzen. Hinter einem dichten Gestrüpp aus Verordnungen, Gesetzen, Mitarbeitern und ausgelagerten Bereichen, verstecken sich die wahren Verantwortlichen. »Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen« — daran hat sich seit dem Mittelalter wenig geändert. Während die Eigenverantwortung bei den Bürgern zum Zwang gemacht wird (private Vorsorge, Arbeitssuche usw.), verpflichten sich Unternehmen wenn, dann nur freiwillig (Ausbildungspakt, Verhaltenskodex usw.). Von den Bürgern wird Eigenverantwortung verlangt und im gleichen Atemzug wird jede Verantwortung der Herrschenden abgelehnt und verleugnet. Verantwortlich sind dann immer die Anderen: die Politik, die Wirtschaft, die Gesetze, die Mitarbeiter, die Bürger, die Natur, die Globalisierung, das System, eine andere Nation oder eben höhere Gewalt.
Guter Beitrag, der zeigt, dass sich der Verfasser mit Eigenverantwortung auskennt und Verantwortung übernimmt.
Zu Medien und den Fehlern der Politik, hat sich Georg Schramm sehr schön geäußert....
http://www.youtube.com/watch?v=jitdvJ5U3I4
»Dem Wachstum hat sich alles unter zu orden«
MFG
sehr gut. liest man das buch buch von hans jonas »das prinzip verantwortung«, sind es eben genau die, die anderen mangelnde eigenverantwortung vorhalten, die schmalos und verantwortungslos handeln. verantwortung impliziert auch die reflexion auf die folgen dessen, was ich tue.
In diesem Zusammenhang ist es ja auch aufschlussreich, dass der scheinheilige Ruf nach Eigenverantwortung in Wirklichkeit mit einer umfassenden Entmündigung sogenannter „Leistungsempfänger“ einhergeht. Wer sich in echter Eigenverantwortung – und weil er/sie die Hoffnung auf einen Vollzeitjob, von dem man/frau leben kann, angesichts der realen Verhältnisse notgedrungen aufgegeben hat – einen Zuverdienst, etwa einen 400-Euro-Job organisiert, dem werden für „eigenverantwortlich“ hinzuverdiente 200 Euro gleich 80 Euro, für 300 Euro Zuverdienst 160 Euro und für volle 400 Euro Zuverdienst sogar 240 Euro gleich wieder von der Stütze abgezogen.
Das heißt, er/sie kann trotz emsigen Strampelns auf diese Weise keine Butter aus der Magermilch gewinnen, sondern allenfalls ein paar kleine Sahneklümpchen. In der Praxis ist sogar ein sogenannter 1,50-Euro-Job vorteilhafter, weil da zusätzliche Erstattungen wie zum Beispiel Fahrtkosten nicht abgezogen werden.
Auch wer „eigenverantwortlich“ soviel Strom gespart – oder, bei frisch Verarmten, im Vorjahr soviel Steuern zuviel bezahlt hat – dass sich eine Erstattung ergibt, muss sich dies als „Zusatzeinkommen“ (sogar ohne Freibeträge, soweit ich weiß, da ja nicht durch „Arbeit“ erworben) ebenso anrechnen lassen wie jemand, der nach und nach seinen gesamten Besitz bei eBay vertickt.
Vieles, wie etwa die eingeschränkte Bewegungsfreiheit – theoretisch muss der ALG-II-Empfänger sich sogar einen Wochenendbesuch außerhalb der nächsten Umgebung von der ARGE absegnen lassen: Soviel zum Thema „Warum kommen eigentlich nicht mehr Betroffene zur Demo nach XYZ?“ – beweist ja, ganz im Gegenteil, dass die Obrigkeit mit Recht fürchtet, echte Eigenverantwortung könnte das Druckmittel „Hartz IV“ seiner übelsten Auswirkungen berauben. So erklärt sich die emsige Unterdrückung und Demütigung der „Hilfebedüftigen“.
Allein die Tatsache, dass vdL jetzt endlich (!) nach 6 Jahren Hartz-IV mit dem Gedanken spielt, für Schüler in sogenannten Bedarfsgemeinschaften die Schulbus-Freifahrkarten nicht nur bis zur 10. Klasse zu gewähren, spricht doch Bände. Arme Eltern, deren Kinder die Oberstufe des Gymnasiums besuchen, müssen sich den Betrag von in unserem Landkreis z.B. mehr als 400 Euro im Jahr derzeit noch „eigenverantwortlich“ vom Munde absparen.
Angsterzeugung durch Ichschwächung. Angstabbau durch Ichstärkung. Die Elemente des erweiterten Ich, das Gewebe des westlichen Wohlfahrtsstaates zum Beispiel, werden gelöscht. In den Köpfen der Menschen. Ein geschrumpftes Ich. Erwartungen und mögliche Zukünfte in alle Richtungen werden brachial aus den Köpfen gerissen. Die mentalen Verbindungen der Solidarität, der Sicherheit des Sozialstaates, der Sicherheit gewisser intersubjektiv geteilter Anschauungen, die Abfolge der Welt und ihrer Inhalte und Formen, all das wird heraussondiert. Was bleibt ist ein Torso aus Ich, ein kapsulines Ich, geschwächt und geängstigt. Nicht anders bei den Reichen. Nur haben die die finanziellen Ressourcen, in die sie sich flüchten können. Die Eigenverantwortung ist denn auch ihr Aha-Erlebnis schlechthin. Es geht also doch, aha. Das restrukturiert alles und wehrt die anfängliche Angst ab und schiebt sie den anderen unter, die nicht Geld haben. Diese haben dann die ganzen negativen Eigenschaften hängen, die diese nicht wahrhaben wollten und nicht wahrhaben mussten. Ein Segment.
Es ist freilich ein Problem, wenn man damit konfrontiert wird, sich selbst prinzipiell und dauernd unter Beweis stellen zu müssen. Das Kollektive Sensem der Eigenverantwortung ist auf Funktionieren und Gelingen gepolt. Eine Simulation: die allseits akzeptierte und geprüfte Lösung für alles ist Eigenverantwortung ungefähr so wie: man löscht Feuer mit Wasser. Sozialer Druck, freilich internalisiert. Der Widerspruch stellt sich ein, sobald wahrgenommen wird, dass es bei allen nicht geht, bei sehr vielen nur so halbwegs und bei wenigen recht gut.
Es ist der geniale Trick: lass die Leute sich die Schuld an ihrem Unglück selbst zuschreiben und sie werden nie etwas von anderen wollen. Schicke sie in diesen Teufelskreis. Sage es ihnen immer wieder und wieder. Sie werden sich selbst fertig machen, weil ihre Fehlersuche sie immer wieder nur und nur auf sie selbst zurückbringt. Entziehe das Licht an allen anderen Orten des Sinnes. Sie werden die Widersprüche der Welt nicht sehen können. Die Widersprüche der Welt sind aus diesem Blickwinkel nicht sichtbar. Aus diesem Blickwinkel gibt es keine Widersprüche. Und du mutest ihnen ohnehin zu viel zu. Es gibt keine Lösung.
Das Hamsterrad. Es strengt an, es müht ab. Und wenn dann wer daherkommt und meint, nicht er, sondern die anderen, die Gesellschaft ist Schuld, dann schau was passiert. Rabbiat werden sie werden. Im Schweißbad der endlosen Selbstprüfung werden sie es nicht dulden, dass jemand ihnen auch noch die Fehler anderer unterschieben möchte. Lass mich bloss in Ruhe mit dem ganzen Schei., was geht mich das alles an, sollen sie doch alle kr...... Du wirst emsige Menschen ernten, unterwürfige Menschen. Du musst ihnen nur deine Gelassenheit zeigen, kanalisiere deine mächtigen Ressourcen in ein ewig heiteres und kaltes Lächeln, distanziere die Masse tief unter dich. Um so höher du steigst, um so emsiger werden sie im Hamsterrad des Selbst hetzen.
Sehr schön gesagt flavo, danke für deinen Kommentar.
Einige Anmerkungen und Korrekturen. Wer bei ebay sein Zeugs privat verkauft muß nichts davon verrechnen, weil es sich lediglich um eine Wandlung des Besitzes handelt — ich weiß das, weil ich es in der Vergangenheit mal durchexerziert habe mit dem Amt und mich durchsetzte. Aber natürlich versuchen es die Argen immer mal wieder und schaffen es wohl auch hier und da, weil die Betroffenen sich nicht nicht trauen, sich zur Wehr zu setzen.
Und was das Gesetz betrifft, auf daß sich die Argen so gern berufen: niemand verstößt so regelmäßig gegen das SGB II wie die Mitarbeiter der Argen selbst, weil es entweder interne Dienstanweisungen gibt, die bereits einen Verstoß beinhalten oder die Mitarbeiter das Gesetz nicht kennen, mit dem sie arbeiten, bspw. die »Keule« der Mitwirkungspflicht, die doch enge Grenzen setzt, die stets mißachtet werden von seiten der Arge.
Na ja, und was soll ich noch zur Eigenverantwortung der selbsternannten Eliten und Leistungsträger sagen, die nur am rumheulen sind, wenn ihnen mal wieder ein bißchen Subvention gestrichen wird (direkte oder indirekte). Aktuellstes Beispiel, die »christlichen« Gewerkschaften in der Sklavenbranche, auch oft fälschlicherweise Zeitarbeit genannt.
Also ich frage mich — bei allem Zuspruch hier auf der Seite — trotzdem, wie weit es mit dem Verantwortungsbewusstsein der Menschen gekommen ist. Alles schimpft immer auf die Politik und auf die »miserablen Umstände«, in den wir alle angeblich leben. Dabei sehe ich Tag für Tag, wie unverantwortlich die Menschen im täglichen Umgang miteinander umgehen. Echtes Interesse am Anderen ist doch heute sehr selten geworden. Viele interessieren sich nur noch für ihre eigenen Probleme ... werfen dies aber gleichzeitig anderen vor. Das ist für mich nur sehr einseitig reflektiert. Schade.