Tobias Pflüger ist 1965 in Stuttgart geboren, ist deutscher Friedensforscher und Politiker. Er gründete 1996 die Informationsstelle Militarisierung e.V., gehört der Redaktion der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« an und war Mitherausgeber der Monatszeitschrift »Graswurzelrevolution«. Der Friedensaktivist Pflüger ist parteilos, kandidierte in der Vergangenheit jedoch für die Linkspartei.
Am 12. April 2010 führte der Rotdorn ein Interview mit dem Friedensaktivisten über den Afghanistankrieg. Auf Rotdorn.org ist das vollständige Interview als MP3 zum runterladen zu finden. Im folgenden ein kurzer Auszug.
Rotdorn-Radio: Der Afghanistan-Krieg hält mittlerweile neun Jahre an. Wie sieht Deine Bilanz aus?
Tobias Pflüger: Die Situation in Afghanistan ist inzwischen schlechter als zum Zeitpunkt des Einmarsches. Vielen Menschen geht es schlechter und in weiten Teilen Afghanistans findet ein Krieg statt. Insgesamt kann man sagen, Afghanistan befindet sich in einer völlig desolaten Situation. Die NATO und die Bundeswehr sind ganz wesentliche Eskalations- und Kriegsakteure.
Rotdorn-Radio: Wie ist das zu erklären, dass sich die Situation in Afghanistan verschlechtert hat?
Tobias Pflüger: Im Grunde genommen geht es um zwei Phänomene. Erstens wurde die Situation in Afghanistan und die Rolle der Bundeswehr in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nie richtig vermittelt. Am Anfang hat es vor allem sehr viel Propaganda gegeben, als Bundeskanzler Schröder a.D. im Jahre 2001 von der sog. »uneingeschränkten Solidarität« gesprochen hatte. Niemandem war es wirklich bewusst, dass dort Krieg herrscht und das Bundeswehrsoldaten in einen Krieg geschickt werden. Denn Aufbauarbeit findet heute kaum noch statt. Zweitens ist der afghanischen Bevölkerung zunehmend bewusst, dass ihnen ein System übergestülpt werden soll. Dagegen gibt es Widerstand, da viele Afghanen das westliche Modell nicht befürworten. Die gewaltsame Art und Weise der NATO-Truppen facht den Widerstand erst richtig an.
Rotdorn-Radio: Das heißt, die Besatzungstruppen sind mit dafür verantwortlich, dass sich die Situation verschlechtert hat?
Tobias Pflüger: Die Besatzung ist sogar der eigentliche Grund vieler Afghanen sich zu wehren, da die NATO-Truppen brutal und rücksichtslos auftreten. Es wurden zum Beispiel regelmäßig Obstbäume gefällt, damit die NATO-Truppen mit ihrem schweren Kriegsgerät durch enge Pässe und Strassen fahren konnten. Da diese Obstbäume jedoch die Lebensgrundlage vieler ortsansässiger Afghanen war, regte sich so der Widerstand gegen die Besatzer. Beim nächsten Durchfahren war die Strasse vermint.
Rotdorn-Radio: Kannst Du eine Einschätzung abgeben, wie viele Soldaten und Zivilisten im Afghanistan-Krieg bisher gestorben sind?
Tobias Pflüger: Die Opfer auf Seiten der Zivilbevölkerung werden nicht gezählt. Beim Massaker von Kundus im Herbst 2009 soll es aber beispielsweise um die 150 zivile Opfer gegeben haben. Die NATO selbst zählt ihre Toten. Die Bundeswehr hat bisher 39 Soldaten verloren.
Rotdorn-Radio: Der amtierende afghanische Präsident Karsai, der vom Westen eingesetzt wurde, artikuliert sich in letzter Zeit immer wieder gegen die NATO-Truppen. Bietet Karsai Möglichkeiten zu einem Frieden?
Tobias Pflüger: Karsai hat seine Macht durch Warlords, Korruption und Klüngel gefestigt. Sein Bruder ist einer der größten afghanischen Drogenhändler. Karsai genießt kein wirkliches Vertrauen in der afghanischen Bevölkerung. Auch hat es massive Wahlfälschungen in Afghanistan gegeben. Insofern versucht Karsai im Moment nur, seine Position in der afghanischen Bevölkerung zu festigen, um selbst an der Macht zu bleiben.
Rotdorn-Radio: Offizielle Umfragen belegen, dass bis zu 75% der Deutschen gegen den Afghanistan-Krieg sind. Trotzdem scheint die Friedensbewegung tot zu sein. Wie kommt das?
Tobias Pflüger: Sehr viele Menschen sind verunsichert, was das Thema Afghanistan angeht. Viele sind zwar gegen diesen Krieg, wissen aber nicht, wie es besser gehen könnte. Da muss die Friedensbewegung klar formulieren, dass mit dem Abzug der NATO und der Bundeswehr sich neue Türen öffnen würden. Denn nur so kann eine weitere Eskalationsspirale verhindert werden.
Rotdorn-Radio: Wie schätzt Du die Terror-Gefahr für Deutschland ein?
Tobias Pflüger: Wenn die Bundeswehr und die NATO weiterhin für Terror in Afghanistan sorgen, dann kann es auch vermehrt Terroranschläge in Deutschland geben. Ein Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan wäre ein Beitrag zum Frieden.
Rotdorn-Radio: Wieso ist es eigentlich nicht möglich Afghanistan militärisch zu beherrschen?
Tobias Pflüger: Das hängt mit der Infrastruktur, der gesellschaftlichen Struktur und der politischen Struktur Afghanistans zusammen. Das postkoloniale Denken des Westens erzeugt Widerstand. Es wird auch keine Rücksicht auf die Bedingungen vor Ort genommen.
Rotdorn-Radio: Wenn der Krieg nicht zu gewinnen ist, wieso führt man dann diesen Krieg überhaupt noch weiter?
Tobias Pflüger: Innerhalb der NATO wird es offen formuliert: wenn die NATO diesen Krieg verliere, habe die NATO als Organisation keine Zukunft mehr. Insofern wird der Krieg nur noch deswegen geführt, damit die NATO als Organisation überlebt.
Das vollständige Interview vom 12. April 2010 (der Afghanistankrieg) ist als MP3 zum runterladen auf rotdorn.org verfügbar.