Vor kurzem saß ich in der Berliner U‑Bahn und »gönnte« mir mal wieder die Obdachlosen-Zeitung »der Strassenfeger«. Auf Seite 20 der aktuellen Ausgabe Nr. 20 vom September 2009 gab es ein Verkäuferportrait von René Soltysik. In diesem Portrait wird ausführlich geschildert, wie er zur Obdachlosigkeit gekommen ist. Da es leider immer noch sehr viele Menschen gibt, die der Auffassung sind, »die sind ja alle selbst schuld« und die sich nicht mit den Hintergründen von Obdachlosigkeit auseinandersetzen, ist hier im folgenden das Verkäuferportrait mit Einverständnis der Strassenfeger-Redaktion zu lesen.
Verkäuferporträt René Soltysik
Vom Abstürzen und Wiederaufstehen
Ich wurde vor 41 Jahren in Berlin geboren und bin somit eine echte Berliner Pflanze. Meine Kindheit und meine Jugend waren nicht gerade einfach, da ich meinen Vater nicht kannte und meine Mutter krank war. So kam ich mit sieben Jahren in ein Kinderheim. Der Kontakt zu meiner Mutter ist aber auch in dieser Zeit nicht abgerissen. Einen tiefen Einschnitt in mein Leben erfuhr ich, als meine Mutter nach einer langen und schweren Krankheit starb. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade 14 Jahre alt. Bei der Beerdigung traf ich meinen älteren Bruder wieder und unser Verhältnis wurde mit der Zeit so stark, dass ich mit 17 Jahren bei ihm einzog. Zu dieser Zeit habe ich dann eine Gärtnerlehre angefangen. Mein »Lehrherr« bekam aber heraus, dass ich ein Heimkind bin. Da fing das Mobbing so richtig an. Ich war an allem schuld, was auf der Arbeit schief ging. Aus psychischen Gründen brach ich ab, obwohl ich diesen Beruf liebte.
Mein Absturz und das Wiederaufstehen
Da ich keine abgeschlossene Ausbildung habe, konnte ich keine Arbeit finden. Durch die Arbeitslosigkeit habe ich erst meine Wohnung und dann den Halt im Leben verloren. So geriet ich ins Abseits der Gesellschaft und kehrte Berlin den Rücken, um mein Glück in einer anderen Stadt zu suchen. Doch das Einzige, was ich fand, war ein Platz unter der Brücke, in Bahnhöfen oder irgendwelchen Obdachlosenheimen. Das einzig Positive in dieser Zeit war, dass ich Deutschland kennengelernt habe. Diese Zeit umfasste sechs Jahre. Als mein Bruder mich dann wiederfand, kam ich nach Berlin zurück. Hier habe ich einige Zeit wieder bei ihm leben dürfen und mein Leben ordnen können. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Denn ohne den Halt, den er mir zu dieser Zeit gab und gibt, wäre ich wahrscheinlich heute noch auf der Straße. Doch wirkliche Freunde konnte ich in dieser Zeit nicht finden.
Was daraus wurde
Seit ungefähr zehn Jahren habe ich eine eigene Wohnung und bestreite trotz meiner Diabetes mein Leben, so gut es geht, alleine. Durch diese Krankheit habe ich 2006 mein linkes Bein verloren. Seit dieser Zeit sitze ich im Rollstuhl. Ich versuche ja wieder arbeiten zu gehen. Doch das Einzige, was mir bleibt, ist eine Behindertenwerkstatt. Aber die Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt stellt sich als sehr schwierig heraus. Somit habe ich immer noch keine Arbeit gefunden, obwohl ich mich seit zwei Jahren intensiv darum kümmere. Seit Mai diesen Jahres bin ich jeden Tag bei mob e.V. und verbringe meine Freizeit überwiegend hier. Das liegt zum einen daran, dass ich hier einen sehr guten Halt und gute Freunde, die mich so akzeptieren, wie ich bin, gefunden habe.
Ehrenamtliche Arbeit
Seit Juli habe ich auch eine vertrauensvolle ehrenamtliche Aufgabe übernommen. Ich arbeite im Team unseres Verkäuferkoordinators. Mein Aufgabengebiet erstreckt sich darin, dass ich mich um die Probleme und Belange unserer Verkäufer, die im Umland von Berlin tätig sind, so weit es in meiner Macht steht, kümmere. Eine dieser Aufgaben, an der ich auch sehr viel Spaß habe, ist das Informieren über unseren Verein. Deshalb nehme ich auch an Aktionen teil, die von anderen Vereinen bzw. Organisationen oder von unserem Verein organisiert werden. Und genau hier werden Sie mich an Ständen mit dem Hinweis strassenfeger oder mob e.V. antreffen. Unter unseren Verkäufern hat sich um unseren Koordinator eine kleine Gruppe gebildet, in der jeder für jeden in jeder Lebenslage da ist. Ich bin dankbar, dieser Gruppe anzugehören, denn durch die Aufgaben und den Zusammenhalt, ist mein Selbstbewusstsein sehr gewachsen.
(Notiert von Thomas Neumann.)
Mit Dank an die Strassenfeger-Redaktion!
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