Auch wenn ich es gerne von mir behaupten würde, frei von Vorurteilen bin ich wohl nicht. In einem daraus resultierenden minderschweren Fall von Diskriminierung, muss ich eingestehen, dass ich der Serie »Boston Legal« von David E. Kelley nur begrenztes Potenzial einräumte als diese erstmals ausgestrahlt wurde.


Calista Flockhart als Ally McBeal

Ich habe sowohl die Qualität von Gerichtsserien im Allgemeinen, als auch die von Kelley produzierten im Speziellen in Frage gestellt. Kelleys Vorteil, wenn es um Gerichtsformate geht, mag sein das er als Quereinsteiger praktische Erfahrung mit dem US-amerikanischen Rechtssystem aufweisen kann, ganz zufällig als Anwalt in Boston. Seit seinem Einstand bei der Serie »L.A. Law« ist allerdings einige Zeit vergangen und Kelley hatte ausreichend Möglichkeit zum Perfektionieren des Formats und bilden seines eigenen Stils. So hatte er um die Jahrtausendwende mit »Ally McBeal« und »The Practice« sowohl eine komödiantische als auch eine dramatische Gerichtsserie auf Sendung, beide (kommerziell) ziemlich bis sehr erfolgreich und beide überhäuft mit Preisen. Für »Ally McBeal« konnte ich mich nicht recht erwärmen, die Sendung hatte zwar sehr unkonventionell angelegte Charaktere, aber da quasi jede Figur extravagante Züge aufwies, und ich das Gefühl hatte diese waren vor allem mit sich selbst beschäftigt, empfand ich das Format als überladen. »The Practice« wurde im deutschen Fernsehen recht stiefmütterlich behandelt und die paar Folgen die ich sah, schienen mir auf eine recht konventionelle Serie hinzudeuten, wobei ich im Nachhinein vermute hier hätte ein genauerer Blick lohnenswert sein können.

»Boston Legal« ist denn auch so etwas wie die Schnittmenge aus den beiden Vorgängerserien: Drama und Komödie zu gleichen Teilen. Technisch gesehen ist die Serie wohl ein Spinoff von »The Practice«, da die beiden zentralen Figuren ihr Debüt in diesen Serien hatten, wenn auch noch deutlich weniger weit entwickelt.

James Spader verkörpert mit Alan Shore die zentrale Identifikationsfigur der Serie, er weist die für Kelley typische Extravaganz auf, die einen Charakter zwar etwas überzeichnet wirken lässt, aber vor allem ist er Wissen und Gewissen der Kanzlei Crane, Poole & Schmidt. Typisch für Fiktion ist die überbetonte Leidenschaft der Protagonisten, da macht Alan keine Ausnahme, es ist wahrscheinlich seine zentrale Eigenschaft. Bei der Auseinandersetzung vor und um das Gericht herum treffen seine Eloquenz und Leidenschaft aufeinander und Kelley nutzt die Gelegenheit um die Schlussplädoyers Alans zu groß angelegten, hochemotionalen Anprangerungen von gesellschaftlichen Missständen zu stilisieren. Das ist sehr amerikanisch aber oft auch sehr gelungen inszeniert.


Lorraine Weller, Denny Crane, Alan Shore

Ein Glücksfall für William Shatner ist die zweite zentrale Figur, Denny Crane, da sie sein eigenes Image (bzw. das seiner Figuren) persifliert. Denny ist das Gegengewicht zu Alans progressiv, liberal angelegtem Charakter. Denny ist ein in die Jahre gekommener Staranwalt: Er ist stockonservativ und dabei völlig durchgeknallt. Er weist erste Anzeichen von Demenz auf und hat eine Alzheimerdiagnose im Vor- bzw. Frühstadium erhalten. Die ehemalige Bewunderung die ihm zu Teil wurde weicht immer mehr Mitleid und er kann nicht darum sich mit seiner bevorstehenden Krankheit auseinanderzusetzen. Ihn und Alan verbindet, trotz der stark differierenden Einstellungen, eine tiefe Freundschaft, welche ihm die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit erleichtert und Alan immer wieder neue Sichtweisen auf das Leben eröffnet. Auch wenn Denny einen Extremcharakter darstellt ist seine Angst für jeden nachvollziehbar, was man von seinen Ansichten häufig nicht behaupten kann, aber diese werden doch immer mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit dargestellt, so dass Denny zweifellos von uneingeschränkter Aufrichtigkeit geprägt ist. Seine Kommentare zu Allem und Jedem sind das Salz in der Suppe für »Boston Legal«.

Die Besetzung der zentralen Figuren mit Spader und Shatner war entweder ein Geniestreich oder ein Glücksgriff, der die Serie massiv aufwertet. Neben diesen beiden zentralen Figuren wartet die Serie mit diversen weiteren Charakteren auf, die teilweise interessante Anlagen aufbieten. So nimmt der Charakter von Jerry Espenson (dargestellt von Christian Clemenson) in den späteren Staffeln (zugegebenermaßen habe ich bisher nur diese gesehen) eine relativ wichtige Rolle ein. Er ist ein weiterer Anwalt bei Crane, Poole & Schmidt und leidet am Asperger Syndrom, einer Form des Autismus, weswegen er durch diverse Ticks auffällt, wie das er seine Hände fast immer auf den Oberschenkeln hält oder unwillkürlich kurze Geräusche von sich gibt. Carl Sack hingegen (wunderbar gelassen dargestellt von John Laroquette) ist aus der Zentrale nach Boston versetzt worden um ein wenig für Ordnung zu sorgen, was er aber nach einigen Anläufen scheinbar aufgibt und das kreative Chaos weitestgehend gewähren lässt.


Jerry Espenson, Shirley Schmidt und Katie Loyd

Die Nebenfiguren sind allerdings im gewissen Maße eine schwäche der Serie, da die zentralen Figuren nur begrenzt kreativen Spielraum lassen um diese zu entwickeln, so ist die Fluktuation bei diesen relativ hoch, möglicherweise, weil deren Potential oft Brach liegt. So sind nicht untypisch, vor allem die weiblichen Figuren häufig eher farblos, so wird zwar z.B. die Figur von Katie Loyd (dargestellt von Tara Summers) recht beeindruckend in den ersten Folgen der vierten Staffel eingeführt, indem ein in der Todeszelle sitzender, komplett unkooperativer Klient, durch ihren ungebrochen Glauben an dessen Unschuld vor der Exekution bewahrt wird, danach agiert sie aber nur noch als Sidekick von Jerry, bzw. wie ich vermute als dessen zukünftige Beziehung.

Auf den ersten Blick scheinen die Strukturen der Serie denen von »Ally McBeal« zu gleichen, was zu nicht unerheblichen Teilen sicherlich korrekt ist, allerdings sind die Fälle in »Boston Legal«, so konstruiert und oft grotesk sie auch wirken, immer das Vehikel für einen Denkanstoß. Kelley zeigt dabei ziemlich deutlich wie wenig er an vielen Stellen vom amerikanischen Rechtssystem zu halten scheint, so stellt z.B. Alan ziemlich deutlich die Integrität vieler Richter am Obersten Gerichtshof in Frage. Die Todesstrafe wird quasi in jeder zweiten Folge von Alan kritisiert um gleich darauf klar und deutlich von Denny als Recht auf Vergeltung verteidigt zu werden.

Die dargestellten und angeprangerten Zustände in »Boston Legal« sind oft eigentlich sehr traurig, aber die Serie ist und bleibt vorrangig eine Unterhaltungssendung und deshalb nimmt sich Kelley offensichtlich die Freiheit sehr konstruierte Umstände darzustellen damit neben dieser Tatsache immer noch genug zu lachen bleibt. Diese Fähigkeit Kelleys ist so ausgeprägt, dass ich bei »Boston Legal« vermutlich mehr zu lachen habe, als den Rest der Woche, auch wenn mir immer das Sprichwort in den Sinn kommt: »Humor ist wenn man trotzdem lacht«.

by todesglupsch



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