Ratlos vor der Realität
»Big Brother 5« suggeriert »Klassenkampf«.
Dabei ist der Begriff längst entschärft, ja Unterhaltung geworden
Von Jo Groebel
(Direktor des Europäischen Medieninstituts)
aus dem Tagesspiegel vom 15.03.2004
In der Spätfolge verkommen große Ideen oft zu Trivialem, schlimmstenfalls zur Umkehrung des ursprünglich Gemeinten. Aus der Selbstbefreiung der 68er ist purer Egoismus geworden. Der Liberalismus führte in der ökonomischen Krise zu einem knallharten, sozialen Wettbewerb. Die transparente Gesellschaft drängt uns heute jedwede banale Intimität auf. Interessante Markenphilosophien entwickelten sich zu einer Inflation von penetranten Etiketten für alles und jedes. Aus der Postmoderne-Diskussion ergaben sich Beliebigkeit und Zynismus. Andererseits: Erst mit der flächendeckenden Verbreitung jedweder Art von Massen- und Maßkommunikation hat sich die Aufklärung durchgesetzt. Potenziell ist jedem jede Information zugänglich, kann sich jeder seinen Lebensstil, sein Lebensideal aus einem überreichen Bouquet an Möglichkeiten auswählen. Und die Medien sind konsequent demokratisch: Die Mehrheit bestimmt, was zur dominanten Formel wird, Quoten und Auflagen sind Maßstab und Richtungsgeber für das von den meisten Gewünschte geworden.
Und so kann man den Erfolg der so genannten Reality-Formate als Indikator für den kulturellen Stand unserer Gesellschaft betrachten. Mit allen guten und allen schlechten Eigenschaften. Der "Klassenkampf" von "Big Brother 5" vereint dabei gleich etliche der heute geltenden Prinzipien auf sich: In der 24-Stunden-Version können sich die Teilnehmer konsequent vor der Nation selbstverwirklichen (68er-Prinzip). Was gibt es Schöneres, als für das pure Bildschirmsein Aufmerksamkeit, Bewunderung, vielleicht Ablehnung, jedenfalls Gefühlszuwendung zu bekommen. Narzissmus pur. Gleichzeitig suggeriert die Idee des »Klassenkampfes«, dass die Stärkeren, egal wer im Wettbewerb schließlich siegt, es dem Schwächeren gnadenlos zeigen werden. Selbst Schuld, wer's nicht schafft (Neo-Liberalismus-Prinzip).
Na ja, die ersten Big-Brother-Bilder wirkten allerdings eher gnadenlos langweilig, und das selbst beim Zusammenschnitt der »Höhepunkte«. Denn die Realität eines durch und durch beleuchteten Lebens in der Informationsgesellschaft (Transparenzprinzip) ist vor allem, dass genau diese Höhepunkte, egal in welcher Erotik- oder Ereignisbedeutung, die Ausnahme sind und mühsam durch eine auch nicht immer einfallsreiche Regie erst geschaffen werden müssen. Und so sind die, die nicht zum harten Kult- (auch so ein Wort) Kern gehören, enttäuscht, weil selbst die inszenierte Wirklichkeit ungleich gleichförmiger verläuft, als die wilden Plakat- und Zeitungsschlagzeilen suggerieren (Etikettenprinzip).
Inzwischen ist dabei jede öffentliche Debatte über das Für und Wider der Shows selbst zum Teil der Etikettierung geworden. Sie stellt erst die marketing-technisch notwendige Skandalisierung her und neutralisiert sich zugleich durch die immer wiederkehrenden eigenen Wortversehungen, verwendete wie selbst erhaltene (Groebel als »Moralapostel«). Und so wird die Diskussion um die Reality-Formate auch zu einem Wettbewerb um die immer drastischeren Vokabeln, weil man sich sonst nur noch gähnend von beiden, Programm wie Auseinandersetzung, abwendet.
Genau hier aber beginnt das vielleicht wirklich Herausfordernde an der Reality-Kultur, die, nebenbei gesagt, kein vernünftiger Mensch durch Verbote regulieren sollte. Wir entschärfen Wörter durch ihre Inflation. Wir schaffen neue Bedeutungen für Begriffe, die einmal präzise gesellschaftliche Um- und Missstände beschrieben. Wir lassen Behauptungen (Skandal) und Wirklichkeit (Langeweile) so auseinander klaffen, dass wir irgendwann den tatsächlichen Skandal nicht mehr bemerken: Jeder kennt die Geschichte vom Hirtenbuben, der aus Schabernack das Dorf ein paar Mal gegen die erlogenen Wölfe zusammenruft und, als diese wirklich angreifen, keinen mehr mobilisieren kann. Wer assoziiert mit »Big Brother« noch eine Albtraumgesellschaft im Orwellschen Sinne. Durch die Trivialisierung des Begriffs haben wir dem echten »Big Brother« die Tür geöffnet. Unser Bewusstsein für das inzwischen Tatsache gewordene, unfreiwillig-gläserne Zusammenleben tendiert gegen Null. Staatliche (Prävention) und unternehmerische (Volkswirtschaft) Sammlung privater Daten sind kein öffentliches Thema mehr.
Apropos Freiwilligkeit Die Kandidaten machen schließlich aus eigenen Stücken mit... Klar, niemand hat sie gezwungen. Was aber ist mit der billigend in Kauf genommenen Notlage mancher Kandidaten, zum Beispiel der ledigen Mutter, die ja schon als »Rabenmutter« die Schlagzeilen holte, ganz zu schweigen von dem dringenden Bedürfnis, sich in der Aufmerksamkeitsgesellschaft um den Preis der Peinlichkeit vom Nobody zum 15-Tage-Star zu machen.
Alles geht (Postmoderne-Prinzip). Und so kann man weder wissenschaftlich beweisen, noch gar juristisch regeln, dass es einen irgend gearteten gesellschaftlichen Schaden gibt, der über die Vorführung einzelner Teilnehmer, in Kauf genommene biografische Einbrüche, die Aufkündigung alter (altmodischer?) Anstandsregeln hinausginge. Die Aushandlung solcher informeller Anstandsregeln macht aber gerade eine starke, kultivierte Gesellschaft aus. Knigge war eben nicht ein verknöcherter Formalist, der uns gelehrt hätte, wie man Messer und Gabel hält, er plädierte vielmehr als Aufklärer für Regeln des Umgangs miteinander, die den anderen Menschen egal welcher Schicht in seiner Existenz akzeptierten und ihn nicht zum Objekt des öffentlichen Gespötts machten. Knigge ist passe? Könnte sein, dass die junge Generation ihn inzwischen schon wieder cool findet - und eben nicht mehr den Zynismus der Beliebigkeit.
»Big Brother«, die Fernsehvariante, ist nun jedenfalls nicht Schuld an der Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, die Show kann natürlich nur gedeihen, weil sie dieses Klima aufgreift und verstärkt. Und da scheiden sich dann in der Bewertung die Geister. Die »Widerspiegel«-Fraktion sieht die Wirklichkeit durchaus kritisch, hält die Medien aber lediglich für Boten der Realität, die selbst nicht an ihrer Gestaltung beteiligt sind, sie in der Unterhaltung nur aufklärend zuspitzten, sie vielleicht sogar »kathartisch« heilten. Die »Kulturpessimisten« sind demgegenüber der Meinung, »Big Brother«, die Reality-Formate, ja der überwiegende Teil des Medienangebots seien die Triebfedern für den Niedergang gesellschaftlicher Normen und Formen. Die reinen »Marktvertreter« schließlich betrachten diesen Konflikt eher verwundert, bestenfalls zählen sie sich der erstgenannten Fraktion zu und »beweisen« den wirtschaftlichen wie den demokratischen Erfolg über die Quote. Insofern ist die Big-Brother-Debatte auch wieder eine Stellvertreter-Debatte über Medien, über Gesellschaft.
Und da rückt der Klassenkampf tatsächlich wieder ins Blickfeld. Die wirtschaftlichen Konflikte werden nämlich immer schärfer, die Gewerkschaften beschwören die alten Klassengegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, während die wirklich Unterprivilegierten jene außerhalb der organisierten Sozialkontrakte sind. Doch in der Werte- und Ideenvielfalt stehen wir staunend und ratlos vor der Realität und sind froh, dass uns ehemals heikle Begriffe nur noch unterhalten. Der »Klassenkampf« ist zu einer Gähnnummer mit Skandalbehauptung geworden.