Schreibwerkstatt

Spitze Grausamkeit

Vor mir ein Blatt Papier, leer und weiß auf einem dunklen hölzernen Schreibtisch. Schon komisch, dass ich hier de facto das gleiche Material vor mir liegen habe. Gewesen war es ein Baum und jetzt aufgespalten in unterschiedliche Formen, unterschiedliche Aufgaben, beide gleich wichtig. Neben dem Blatt liegend noch mal Holz, doch verbunden mit einem anderen Material. Ein seltsames Gemisch, schwarz, splitternd und ein Medium für Gefühle, Macht, Entscheidungen. Ein Kommunikationsmittel. Veraltet, doch immer noch wirkungsvoll und beliebt. Doch als ich mir die Spitze dieses aus Holz und Graphit bestehende Gerät ansehe, da empfinde ich alles andere als Liebe. Nur Grauen und nacktes Entsetzen. Ohne Mine kann selbst der beste Schreiberling der Leere auf dem Blatt nicht zu Leibe rücken. Abgebrochen oder abgenutzt – das kann ich nicht mehr sagen. Doch muss etwas getan werden gegen diesen Zustand der Unbeschreibbarkeit.
So nehme ich mir ein Gerät zur Hand welches gemeinhin als Anspitzer bezeichnet wird. Allein bei dem Wort kommen Gedanken der besonderen Art. Von unterhaltsam bis sexuell angehaucht. Doch trag ich dieses Gerät schon seit dem ersten Tag meiner Zeit als schreibender Mensch mit mir herum. Für den persönlichen Notfall, falls mir die Bleistiftmine einen Strich durch die Rechnung macht, oder in dem Fall dann eben gar keinen mehr macht. So nehme ich mir wie gewohnt den Anspitzer zwischen Daumen und Zeige- und Mittelfinger der linken Hand

und umgreife das noch stumme Schreibgerät mit der anderen. Zielsicher führe ich es in den Anspitzer und platziere es unterhalb der Klinge. Bis jetzt ist diese Vorstellung ja sehr anregend, doch als ich langsam beginne den Stift im Uhrzeigersinn zu drehen, kommen mir ganz andere Gedanken und Assoziationen. Ich fühl mich als Täter, weil ich ein Teil dieses Schreibgerätes abhobel und dann einfach in den Müll verfrachte, nur zu dem Zweck mein Bedürfnis nach Mitteilung zu befriedigen. Und auf der anderen Seite stellen sich meine Nackenhärchen auf, wenn ich daran denke wie sich das anfühlt wenn jemand nach und nach die äußere Schichten meines Körpers, womöglich noch im Gesicht, mit einer Klinge abschält. Warmes Blut welches die Wange runterrinnt und bei dem kleinsten Luftzug erkaltet. Das wäre dann nicht nur schmerzhaft sondern auch ein sukzessives Scheiden von der Welt, ein Auflösen so gesehen. Da könnt ich jetzt in einen philosophischen Exkurs über Tod und Leid und Auflösen abschweifen, aber das hebe ich mir für die weiße Leere des Papiers auf.
Schnell, damit die Gedanken sich nicht verflüchtigen, vollende ich die Umdrehung und zieh das nun scharfe und spitze schwarze Ende des Stiftes heraus. Zum Glück: Holz blutet nicht! Scharf und spitz wie diese Mine sollen meine Worte sein welche fein und dünn geschrieben nun das Blatt zu füllen beginnen.


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