Ein Brief auf meinem Platz. Mein Name steht drauf, kein Absender, keine Briefmarke. Jemand aus dem Ort, denke ich mir. Halbwegs feminine Schrift und ein Herzchen an der Stelle, wo eigentlich der i-Punkt in meinem Namen stehen sollte, lassen mich mal voreilig darauf schließen, dass der Brief von einer meiner ehemaligen Freundinnen aus dem Ort stammen könnte. 'ne Einladung? Mal sehen…
Ich schnipple das Kuvert auf und will gerade die zwei bedruckten Seiten (Zwei Seiten? Niemand aus meinem Ort schreibt mir Briefe!) herausnehmen, da fällt mir schon eine hübsche orange-rote Postkarte mit der bedeutungsschwangeren Überschrift »Nimm Jesus« entgegen. Amen, denke ich mir und setze schon mal vorsorglich ein ungläubig-verächtliches Lächeln auf, denn es ist nun wahrlich nicht mehr schwer zu erraten, was mich auf den beiden Druckseiten erwarten wird.
Die einzige Frage, die sich mir noch stellt, bevor ich sie auseinander falte und zu lesen beginne, ist die, ob es wohl ein persönlicher Brief mit Moralkeule oder ein pseudo-wissenschaftlicher Text mit »belegbaren« Christen-Argumenten ist.
Es ist der pseudo-wissenschaftliche Text.
Um das sachlich zusammenzufassen: da gibt es einen Christen in meinem Ort, vermutlich sogar in meiner Straße, der offenbar so sehr um mein Seelenheil besorgt ist, dass er mir einen anonymen Brief in den Postkasten wirft, in dem mir auf zwei vorgedruckten Seiten mit Bibelzitaten die Botschaft, Entstehung und Notwendigkeit der Verbreitung der Bibel erklärt werden soll, und fürsorglicherweise liegt auch noch eine Postkarte anbei (das Porto ist leider nicht frei… Na, so ein Pech…), mit deren Hilfe ich mir beim darmstadter Bibelstudien-Institut ein erstklassiges, kostenloses Buch namens »Die große Wende – ein Atheist begegnet der Bibel« bestellen kann.
Entschuldigt, wenn ich es so salopp ausdrücke; aber ich kam mir milde verarscht vor.
Ich weiß, ich weiß: ich bin ein undankbarer Mensch, und der- oder diejenige, die mir dieses Teil in den Postkasten geworfen hat, wollte sicher nur das Beste für mich… Trotzdem:
Drei Gedanken von meiner Seite aus:
1. Was würde ein Christ davon halten, wenn ich ihm die neun Satanischen Grundsätze und die Elf Satanischen Regeln der Erde in den Briefkasten werfen würde?
2. Warum, um alles in der Welt, wird immer davon ausgegangen, dass man nur zufrieden leben kann, wenn man Christ ist? Ich war früher Christ, und wenn ich damit zufrieden gewesen wäre, dann wäre ich es geblieben.
3. Warum haben diese Leute noch nicht einmal den Mumm, persönlich mit mir darüber zu reden? Ist ja nun nicht so, dass ich diskussionsunfähig wäre. Man kann durchaus vernünftig mit mir sprechen, denn ich bin ein rationaler Mensch. Aber was soll ich mit diesem anonymen Wink mit dem Zaunpfahl? Mit diesem »nett gemeinten« Tritt in den Arsch? Juhu, seht mal, ich hab jetzt `ne Postkarte, mit der ich mir für 45 Cent das Seelenheil frei Haus liefern lassen kann! Ist das nicht einfach großartig?
Und was mich am nachdenklichsten stimmt: ich habe seit ca. 2 Jahren mit niemandem aus dem Ort hier mehr gesprochen, das heißt, alles, was diese Menschen über mich wissen, ist mein Name und wie ich aussehe.
Da ist kein Wissen über meine religiöse Überzeugung, und da ist auch nicht die geringste emotionale oder freundschaftliche Bindung. Und dennoch diese Anmaßung?
Ich habe es schon Tausende von Malen gesagt, und ich werde es auch in Zukunft immer und immer wieder sagen:
Ich verstehe diese Menschen nicht.
P.S.: Ich werde mir diesen Brief einrahmen und über das Bett hängen. Ich hab mal gehört, dass es gut sein soll, jeden Morgen mit einem Lächeln zu beginnen…