Kinder in Deutschland
Originalfoto: andrey_poliop / photocase.com

Im Sommer 2010 begann ich mich erstmals mit dem Thema Kindheit intensiver zu beschäftigen. Herausgekommen ist eine Kinder-Serie, die bisher zehn Teile umfasst. Der vorliegende Artikel ist eine Zusammenfassung der Kinder-Serie im Zeitgeist-Blog, die am 20. Juli 2010 ihren Anfang nahm und bis auf weiteres auch fortgesetzt wird.

Kinderfeindlichkeit
Stern-Titel: Störfaktor Kind Kinder sind kleine Menschen und haben genauso Respekt, Anerkennung und Liebe verdient, wie Erwachsene. Leider gibt es, besonders in Deutschland, eine latente Kinderfeindlichkeit, die sich in jeder Pore des Alltags zeigt. Kinderfeindlichkeit beginnt schon damit, dass immer mehr Deutsche keine Kinder wollen. Was ja auch völlig in Ordnung ist, denn jeder sollte frei entscheiden dürfen, ob er Kinder in die Welt setzen möchte oder nicht. Hinterfragt man aber wieso das so ist, werden häufig Gründe genannt, die sich – neben dem finanziellen Aspekt – oft unter Eigennutz und Egoismus subsumieren lassen. Kinder benötigen viel Nerven, Zeit, Aufmerksamkeit, Liebe und auch Geld- auf die Verantwortung haben viele einfach keinen Bock. Auch das ist in einer Gesellschaft des gelebten Eigennutzes zumindest nachvollziehbar. Was aber nicht in Ordnung geht, ist die immer weiter um sich greifende Kinderfeindlichkeit, Kinderverachtung und Kinderhass. Beispiele von Kinderfeindlichkeit:

»Wir haben kein Problem mit Haustieren, aber so viele Kinder?!«

— die Antwort eines Vermieters auf eine Frau mit 5 Kindern (aus dem Stern, Ausgabe Nr. 29, 15. Juli 2010, Seite 72)

Kinder werden in Deutschland sehr oft als Belastung, Anstrengung oder als eine persönliche Störung empfunden. Sie sind jedoch kleine Menschen, die genauso Respekt, Achtung und Anerkennung erwarten dürfen wie jeder andere Mensch. Die Einstellung, dass Kinder so etwas wie »halbfertige Menschen« seien, man sie deswegen auch nicht wirklich ernst nehmen müsse, ihre persönlichen Grenzen nicht achten müsse und sie deshalb auch nur mit almosenhaften Wohlwollen der Erwachsenen rechnen dürfen, statt mit aufrichtigen Respekt, ist kinder- und damit menschenfeindlich. Eltern können nicht erwarten, dass Kinder sie respektieren, wenn sie wiederum Kinder nicht respektieren. Sicherlich können auch Erwachsene Respekt, Rücksichtnahme und Verständnis von Kindern erwarten. Allerdings sind vor allem Kleinkinder kognitiv dazu noch nicht in der Lage und genau diesen Umstand beachten viele Erwachsene nicht.

Die Autorität und die Führung von Eltern und Erwachsenen akzeptieren Kinder, umso mehr sie verstanden, geachtet, ernst genommen und bedingungslos geliebt werden. Vom unverfälschten, neugierigen und lebendigen Wesen von Kindern, können gerade die rational denkenden und angepassten Erwachsenen noch viel lernen.

Erziehung
Kinderbuch: We love Grandpa Die Diskussion über die vermeintlich richtige Erziehung von Kindern, ist ein beliebtes Streitthema. Viele Elternteile beanspruchen für sich die Weisheit darüber, wie man Kinder am besten erzieht. Tips, Ratschläge oder auch nur Anmerkungen in diese Richtung werden schnell persönlich genommen oder sogar als Vorwurf gewertet. Erzieher, die in Kitas arbeiten, wissen genau wovon ich rede. Die Zusammenarbeit mit Eltern gestaltet sich nicht immer einfach. Als Elternteil will man sich nicht reinreden lassen. Meine persönliche Einschätzung ist, dass es zwei große Blöcke bedenklicher Kindererziehung gibt.

Der eine ist die Verwahrlosung, Ausgrenzung und Benachteiligung von Kindern. Das Kinderarmut Chancen verhindert steht außer Frage. Ich meine aber, den Erziehungsstil des ständigen Ge- und Verbotes. Kinder werden bei diesem Erziehungsstil ständig an ihre Grenzen erinnert. Ihnen werden hauptsächlich Ge– und Verbote klar gemacht. Sie werden wenig bis gar nicht gelobt oder motiviert, neue Dinge auszuprobieren. Außerdem werden bei dieser Erziehung häufiger Verbote ausgesprochen, als den Kindern Liebe entgegengebracht wird. Kinder möchten aber die Welt erfahren und erleben. Dieser Erziehungsstil geht davon aus, dass Kindererziehung hauptsächlich darin bestehe, Kindern Grenzen aufzuzeigen. Kindern wird so systematisch das selbstständige Denken und Handeln abtrainiert. Sicherlich ist Grenzen aufzeigen wichtig, die Erziehung sollte sich aber nicht darin erschöpfen.

Der zweite fragwürdige Erziehungsstil ist der des Verwöhnens. Ich glaube, viele Eltern sehen es als eine Art von Kavaliersdelikt an, wenn sie ihre eigenen Kinder verwöhnen. Ist es in meinen Augen aber nicht. Und es geht mir nicht mal um das konservative Denken des materiellen Verwöhnens, sondern um die emotionale Verwöhnung. Kinder brauchen Liebe, Aufmerksamkeit und Bestätigung. Man kann sie damit aber auch ersticken bzw. unselbstständig machen. Kinder die emotional verwöhnt werden, ständig alles bekommen und selbst wenn sie Mist gebaut haben, keine Konsequenzen erfahren, werden kleine (und später große) Tyrannen. Kinder die sich niemals eine emotionale Nähe erarbeitet haben, sondern immer und überall von jedem emotionale Nähe erfahren, werden später davon ausgehen, dass die ganze Welt sie liebt. Folglich wird es ihnen sehr schwer fallen, um die Liebe eines anderen Menschen zu kämpfen. Und sie werden mit Ablehnung schwer umgehen können. Emotionale Unselbstständigkeit ist meines Erachtens die große Folge des Verwöhnens der Eltern.

Epikur: Welche Auswirkungen bzw. Folgen kann es haben, wenn Kinder ständig im Mittelpunkt stehen, d.h. emotional und materiell verwöhnt werden?

Helena: Es kann große Folgen haben, da sie gewisse Dinge nicht mehr wertschätzen können, weil sie vieles als Selbstverständlichkeit ansehen. Kinder, die überliebt werden, lernen keine Grenzen kennen und haben es später schwer, die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Wobei grundsätzlich gesagt werden muss, dass es »too good mothering« (Kinder überlieben) deutlich weniger gibt, als die Vernachlässigung von Kindern. Kinder werden zu dem gemacht, was sie sind.


— Interview-Auszug vom 20. Oktober 2010 mit Helena (Name geändert), einer Erzieherin, die an einer Grundschule in Berlin seit 3 Jahren arbeitet. Dort betreut sie mit anderen Erziehern insgesamt 250 Kinder im Alter von 6–12 Jahren. Im ZG-BLog gibt es das vollständige Interview.

Die wichtigste Tugend der Erziehung ist, meiner Meinung nach, die Geduld. Jemand der keine Geduld hat, alles persönlich nimmt und schnell impulsiv wird, sollte sich sehr genau überlegen, ob er Kinder in die Welt setzen möchte. Das könnte für alle Beteiligten eine schlimme Katastrophe werden. Auch sollte man mit Kindern viel reden. Kindern zu erklären wieso, weshalb, warum man sich so oder so in dem Moment verhält, empfinde ich als sehr wichtig. Davon auszugehen, man müsse sich gegenüber Kindern nicht erklären, halte ich für fahrlässig und führt oft zu Missverständnissen. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass gerade das Thema der Erziehung in Deutschland, nicht nur emotional aufgeladen ist, sondern auch mit etlichen Idealen sowie Klischees und Vorurteilen verknüpft wird, die letztlich Druck ausüben. Manche Eltern haben einen viel zu hohen eigenen Erziehungsanspruch und verzweifeln daran. Andere haben gar keinen und nehmen auch keine Ratschläge an.

Grundbedürfnisse
Schild: Bitte langsam fahren – spielende Kinder »Alle Kinder auf der Welt haben das Bedürfnis zu spielen und zu lernen. Und nicht nur das: Sie wollen selbst bestimmen, was sie tun, und sie wollen mit Liebe und Respekt behandelt werden. Sie haben also etliche Grundbedürfnisse, und erst wenn diese erfüllt sind, sind sie wirklich glücklich«.

— Justine Mol, Aufwachsen in Vertrauen: Erziehen ohne Strafen und Belohnungen, 2008, Seite 32

Kinder sind Menschen und jeder Mensch hat Bedürfnisse. Das mag für einige banal klingen, leider gehen aber viele Erwachsene auf die Bedürfnisse von Kindern nicht entsprechend ein. Viele Erwachsene kümmern sich häufig in erster Linie um ihre eigenen Bedürfnisse und vernachlässigen die ihrer Kinder. Neben Nahrung und Schlaf (sowie Wickeln bei Kleinkindern), gibt es noch weitere wichtige Grundbedürfnisse von Kindern. Oft sollen Kinder nur gehorchen, sich den Erwachsenen anpassen und funktionieren. Die Bedürfnisse von Kindern zu erkennen ist nicht immer einfach. Gerade bei Kleinkindern, die gerade erst noch in der Sprachentwicklung sind, ist es oft eine Herausforderung. Sich in das Kind hineinversetzen, genau zuhören und fragen stellen, kann dabei helfen, herauszufinden, was das Kind gerade will. Kinder sind individuell sehr verschieden, dennoch können, unabhängig vom Alter, einige Grundbedürfnisse ausgemacht werden:

  1. Das Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe und emotionaler Sicherheit ist für Kinder sehr wichtig. Eine sichere Bindung gibt Sicherheit und den Raum, sich frei entfalten zu können. Wichtig ist für Kinder vor allem, dass sie bedingungslos geliebt werden, d.h. mit all ihren Launen und Unzulänglichkeiten, und eben nicht nur dann, wenn sie etwas vermeintlich tolles »geleistet« haben oder »artig« waren.
  2. Kinder sind zwar abhängig von ihren Eltern, möchten aber auch in einem vorgegebenen Rahmen selbstständig und unabhängig agieren dürfen. Diesen Rahmen nicht zu eng, aber auch nicht zu weit zu ziehen, ist die große Herausforderung für Eltern. Ständige Bevormundung, Erpressung, Drohung, Gängelung, aber auch Belohnungen sollten nicht als Werkzeuge verwendet werden, um Kinder zu lenken. Vielmehr sollten Kinder aus sich heraus die Welt erfahren wollen. Nur wer etwas lernen will, lernt auch wirklich. Mit Zwang, Drohung und Gewalt wird das Lernen und die Selbstständigkeit für Kinder zur Qual (Und für Erwachsene wohl auch, oder?).
  3. Kinder möchten ernst genommen und respektiert werden. Sie sind eben keine halbfertigen, sondern ganze Menschen mit eigenen Interessen, Stärken und Launen. Eltern sollten sich nicht ständig als die besseren, reiferen, klügeren und moralisch stabileren Menschen sehen, sondern sich auf die Ebene des Kindes begeben und es zu verstehen versuchen. Kinder als gleichwertige Gesprächspartner anzuerkennen, fällt vielen Erwachsenen sehr schwer. Schnell fallen Sätze wie »Komm Du erst mal in mein Alter!«, »Ich bin hier der Erwachsene und nicht Du!«, »Solange Du Deine Füße unter meinem Tisch hast, wird gemacht was ich sage!« oder »Es wird so gemacht, wie ich das sage und Punkt!«
  4. Das kindliche Bedürfnis nach Spiel, Spass, Freude und Beschäftigung wird oft vernachlässigt. Nicht selten erwarten Eltern, dass ihre Kinder sich einfach mal beschäftigen mögen, weil sie gerade ihre Ruhe wollen. Dass Eltern ihre Ruhephasen brauchen ist völlig legitim. Wenn man aber nicht möchte, dass Kinder nur vor dem Fernseher oder der Playstation sitzen und vor Langeweile anfangen zu quengeln, sollten sie ihnen konkrete Freizeitgestaltungsmöglichkeiten anbieten und vorschlagen. Abgesehen davon sollte man auf die Selbstständigkeit des Kindes, aber auch auf das Alter Rücksicht nehmen. Von einem Zweijährigen kann man nicht erwarten, dass er sich mal eben eine Stunde lang selbst beschäftigt, von einem Zehnjährigen schon.

Prägung
Psychologie Heute: Die Kindheit Ohne Zweifel prägen uns unsere Kindheitserfahrungen. Wie stark und in welcher Form, ist aber die eigentliche Frage. Besonders zwei Lebensabschnittsphasen können als zentrale Charakterentwicklungsphasen angesehen werden. Das wäre zum einen die Phase der ersten drei bzw. fünf Lebensjahre und zum anderen die Zeit während der Pubertät. Erlebnisse und Erfahrungen, die wir in dieser Zeit machen, formen unseren Charakter. Dennoch haben wir jederzeit die Möglichkeit uns bewusst zu verändern, sofern der Wille und die Kraft dazu vorhanden sind. Einige prägende Kindheitserlebnisse, die unser Verhalten mit beeinflussen können, sind folgende:

  1. Misstrauen. Wenn frühe Beziehungen zu den Eltern unzuverlässig waren und keine sichere Bindung vorhanden war, kann das für den Rest des Lebens ein unsicheres Gefühl hinterlassen. Solche Menschen glauben möglicherweise ihr Leben lang, dass anderen Menschen schwer zu trauen ist. Sie halten andere Menschen auf Abstand bzw. Distanz und haben eher Angst vor zuviel Nähe. Schließlich könnten sie ja wieder verletzt werden.
  2. Emotionale Entbehrung. Gab es zu Beginn des Lebens eine mangelhafte oder sogar fehlende Fürsorge, so kann sich ein tiefes Gefühl der inneren Leere im Erwachsenenalter breit machen. Solche Menschen fühlen sich wenig geliebt und wertgeschätzt.
  3. Überzogene Erwartungen. Extremes Leistungsdenken im Alter kann entstehen, wenn man in der Kindheit stark von den Eltern unter Druck stand. Die Eltern verlangten von sich selbst und ihrem Kind stets das Beste und doch hat es nie gereicht, um Anerkennung zu erhalten. Überzogener Perfektionismus an sich selbst und andere kann daraus entstehen.
  4. Anspruchshaltung. Wer in seiner Kindheit keine Grenzen respektieren musste und verwöhnt wurde, kann später als Erwachsener mit den Interessen und Bedürfnissen anderer schwer umgehen. Ein egozentrisches Weltbild kann so entstehen.

Wie gesagt, es gibt keine monokausalen Erklärungen zwischen vermeintlich schlechter Kindheit und Verhalten im Erwachsenenalter. Kindheit prägt, ist aber kein unabdingbares Schicksal.

Schlussbemerkung
Das demographische Gespenst wird in Deutschland immer wieder beschworen: wir werden älter und sterben aus! Männer treten in den Zeugungsstreik und Frauen in den Gebärstreik. In Diskursen, Debatten und Talkshows diskutieren und streiten sie über Hintergründe, Ursachen und Lösungskonzepte. Einig sind sich fast alle: wir brauchen mehr Kinder. Was das Kind-Sein ausmacht und was Kindheit eigentlich bedeutet, wird dagegen kaum thematisiert. Kindern wird das Kind-Sein kaum noch gestattet. Eigentlich will man doch gar nicht mehr Kinder, sondern mehr zukünftige Erwachsene, mehr Steuerzahler und mehr funktionierende Rädchen im Getriebe! Denn Kinder werden vielfach als Störung in der eigenen beruflichen Karriere und im wirtschaftspolitischen Betriebsablauf angesehen. Frauen sollten in Deutschland am besten gleich Erwachsene gebären, das wäre wohl am produktivsten.

»Es ist nicht vorstellbar, dass unsere Kultur vergisst, dass sie Kinder braucht. Aber dass Kinder eine Kindheit brauchen, hat sie schon halbwegs vergessen«.

— Neil Postman, das Verschwinden der Kindheit, Seite 171

Eltern gehen zu oft davon aus, dass die finanzielle Versorgung wichtiger sei, als die emotional-soziale Versorgung eines Kindes. Was Kinder in erster Linie brauchen, ist vor allem Liebe, Aufmerksamkeit, Bestätigung und das Gefühl für die Eltern keine Belastung zu sein, sondern der Mittelpunkt in ihrem Leben. Übrigens haben auch Kinder Rechte. Festgehalten sind diese in der UN-Kinderrechtskonvention.

» Alle Teile der Kinder-Serie sind im ZG-Blog zu finden.


by epikur

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