Indien - eine Einführung // Foto: Nataraj Metz @ flickr

15. Juni 2010

Inspiriert vom Sammelband der le Monde Diplomatique: »Indien – die barfüßige Großmacht«

Die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt mit ihren knapp 1,2 Milliarden Einwohnern ist für uns kulturell und geographisch weit weg. Mahatma Ghandi, der geistige Führer der Unabhängigkeitsbewegung, entwickelte im Jahre 1947 das Konzept des gewaltfreien Widerstandes. Auch das indische Kastenwesen wird vielen ein Begriff sein. Dieser Artikel soll einen groben Überblick über Indien liefern und ist insofern als eine thematische Einführung zur aufstrebenden Großmacht gedacht.

Fakten
Nach China mit guten 1,3 Milliarden Einwohnern ist Indien die bevölkerungsreichste Nation der Erde mit knapp 1,2 Milliarden Einwohnern und stellt damit ein gutes Sechstel der Erdbevölkerung. Prognosen gehen davon aus, dass Indien China im Jahre 2025 als die bevölkerungsreichste Nation der Erde überholen wird. Knapp 714 Millionen Menschen sind in Indien wahlberechtigt, auch wenn ca. ein Drittel nicht lesen und schreiben kann. Zwei Drittel der Bevölkerung leben nach wie vor auf dem Land. Indien rangiert im Ländervergleich des Human Development Index (HDI) auf Platz 128 von 177. Mumbai (früher: Bombay) ist mit seinen 14 Millionen Einwohnern, die innerhalb der Stadtgrenzen leben, die bevölkerungsreichste Metropole der Erde. In Mumbai leben 25.000 Dollarmillionäre. Laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes liegt Indien mit 36 Dollarmilliardären hinter USA, Deutschland und Russland in der Weltrangliste an vierter Stelle. Indien ist eine Nuklearmacht und hat den Atomwaffensperrvertrag nie unterzeichnet. 80 Prozent der Waffenimporte stammen aus Russland. Mit mehr als 1,2 Millionen Soldaten besitzt Indien nach China und den USA die drittgrößte Streitmacht der Welt. Seit dem Jahre 1997 wächst die indische Wirtschaft jährlich um durchschnittlich mehr als 7 Prozent. Indien importiert mehr Güter als es exportiert. Nach China, Russland und den USA ist Indien heute der viertgrößte Emittent von Treibhausgasen. Über 70 Prozent der indischen Haushalte leben von weniger als einem Dollar pro Tag und gelten damit als arm. 47 Prozent der Kinder unter 5 Jahre sind laut dem Kinderhilfswerk Unicef untergewichtig. Von den 467 Millionen Erwerbsfähigen sind nur 42 Prozent dauerhaft beschäftigt. 1950 betrug die Lebenserwartung 32 Jahre, heute liegt sie bei 68 Jahren. In der Pressefreiheit-Rangliste von Reporter ohne Grenzen liegt Indien auf Platz 105 von insgesamt 175 Plätzen.

Geschichte und Politik
Mahatma Ghandi Indien war fast zwei Jahrhunderte lang eine Kolonie der Briten. Im Jahre 1947 erlang Indien seine Unabhängigkeit, Mahatma Ghandi war hier eine zentrale Figur. Bevor die Briten von Indien abzogen, veranlassten sie die Teilung des Landes. Durch die Teilung Britisch-Indiens entstand der heutige Staat Pakistan. Muslime sollten in Pakistan und Hindus im neuen unabhängigen Indien wohnen. Es fand die größte Migrationsbewegung aller Zeiten statt. Innerhalb von wenigen Monaten machten sich ca. 12 Millionen Menschen nach Pakistan oder Indien auf. Mehr als eine Million Menschen starben durch Gewalttaten dabei. Bis heute hat die gewaltsame Teilung tiefe Risse zwischen Hindus und Muslime in Indien geschaffen. Indien hat nach wie vor Probleme Staat und Religion zu trennen. Religiöse Hetzreden und religiös motivierte Verbrechen werden strafrechtlich kaum verfolgt.

Seit dem Jahre 1991 verfolgt Indien eine neoliberale Politik der Privatisierung, Deregulierung und des Sozialabbaus. Agrarsubventionen wurden in den letzten Jahren derart zusammengestrichen, dass viele indische Bauern um ihre Existenz fürchten. Im Bundesstaat Andhra Pradesh sind mittlerweile 84 Prozent der Haushalte verschuldet. Der Preis für Saatgut ist bis zu 300 Prozent gestiegen und zwischen den Jahren 1993 und 2003 haben sich mehr als 112.000 Bauern wegen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit das Leben genommen. Auch die privaten Lebenshaltungskosten für Gesundheit, Schule, Ausbildung, Benzin, Wasser und Verkehrsmittel sind enorm gestiegen. Der Fokus wird eindeutig auf das Wirtschaftswachstum gelegt. Die Schere zwischen arm und reich ist in Indien so groß wie nie zuvor. Die meisten indischen Parteien haben keine klaren Programme und vertreten keine bestimmte Klientel. Dadurch dass in Indien – im Gegensatz zu vielen westlichen Demokratien – die Armen die Wahlausgänge zunehmend bestimmen und viele von ihnen weder lesen noch schreiben können, zählen vor allem prominente Parteivertreter und Persönlichkeiten. Viele Stimmen auf dem Land werden gekauft. Dennoch ist Indien eine stabile Demokratie. Abgesehen von eineinhalb Jahren Notstandsregierung unter Indhira Ghandi (1975-1977) war die Verfassung formell nie außer Kraft gesetzt.

Zur Lage der Menschenrechte in Indien fasst Amnesty International zusammen, dass sich in Indien soziale oder politische Spannungen oft in blutigen Gewalttaten entladen. Wie zum Beispiel im Jahre 2002 als über 2000 Muslime in einem brutalen Pogrom verbrannt und niedergemetzelt wurden. Die Schuldigen wurden bis heute kaum zur Rechenschaft gezogen. Die Todesstrafe sei weiterhin in Kraft, Menschenrechtler werden gefoltert und es gebe Umsiedlungen und Zwangsräumungen, z.B. bei großen Staudamm-Projekten.

Kaschmir-Karte
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Der Kaschmir-Konflikt
Die Geschichte des Konfliktes hat bald eine 200 Jährige Geschichte. Nach der Teilung von Britisch-Indien im Jahre 1947 lebte der Konflikt in Kaschmir wieder auf. Es gab bisher mehrere Kriege, Aufstände und Massaker in Kaschmir. Beide Staaten erheben Anspruch auf Kaschmir. Heute steht der westliche Teil Kaschmirs unter pakistanischer Kontrolle (Azad Kaschmir) und der östlich-nördliche Teil unter indischer Kontrolle (Jammu und Kaschmir). Rund eine halbe Million indische Soldaten sind in Kaschmir stationiert. China besetzte im Jahre 1956 und im Jahre 1962 das Aksai-Chin-Plateau, seitdem ist China dritte Konfliktpartei und im Kaschmir-Konflikt auf der Seite Pakistans. Bekannt ist Kaschmir vor allem auch wegen seiner weltweit bekannten und sehr wertvollen Kaschmirwolle, die aus dem Unterfell der Kaschmirziege gewonnen wird.

Die Kastengesellschaft
Das Kastendenken bestimmt nach wie vor den indischen Alltag, auch wenn die Kastendiskriminierung gesetzlich verboten ist und es viele Quotenregelungen gibt. Zahlreiche andere Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen werden häufig übersehen, da sich der gesellschaftliche und politische Alltag ausschließlich auf die Kaste fixiert. Die Kaste spiegelt in ganz Indien traditionelle soziale Schichten und Hierarchien wider. Niemand kann die Kaste seiner Geburt verlassen. Beruf, Alltag und Partnerwahl werden von der Kaste bestimmt. Das Kastensystem ist vergleichbar mit einer feudalen Ständekultur. Einer Legende zufolge entstanden die vier Hauptkasten aus den Körperteilen des göttlichen Urriesen Purusha: die Erste aus dem Kopf, die Zweite aus den Armen, die Dritte aus den Schenkeln und die Vierte aus den Füßen. Jede der vier Hauptkasten (Varna) besitzt Hunderte Unterkasten (Jati):

  1. An der Spitze stehen die Brahmanen (Priester und intellektuelle Elite)
  2. Danach kommen die Kshatriyas (Krieger und hohe Beamte)
  3. Anschließend folgen die Vaishyas (Händler und Grundbesitzer)
  4. Und am Ende der Kastengesellschaft stehen die Shudras (Handwerker und Pächter)

Ausdrücklich außerhalb der Kastengesellschaft stehen die sog. Kastenlosen, die Dalits, die Unberührbaren. Die Kastenlosen werden von Kastenhindus als unrein angesehen und unter ihnen befinden sich überproportional viele Inder die unter Armut leiden. Ein Sechstel der indischen Bevölkerung besteht aus Dalits, die in der Regel kein eigenes Land besitzen. Mehr als die Hälfte der Kastenlosen sind unterernährt.

Ein entleerter Sonnenball
Verlosch
In den Armen der Nacht
Da kam ich zur Welt
Auf dem Pflaster
In zerknüllten Lumpen
Und verwaiste [...]
Und wie ein Mensch
Dem die Sicherung durchgebrannt ist
Wuchs ich auf
Im Straßendreck
Gib mir fünf Paise
Und nimm dafür fünf Flüche sagte ich
Auf dem Weg zum Schrein.

»auf dem Weg zum Schrein«
– Namdeo Dhasal

Kultur
Ein fester Bestandteil der indischen Kultur ist der Film. Er greift häufig die hinduistische Kosmologie auf und macht viele Anleihen bei der traditionellen indischen Kultur. Die Kino- und Filmleidenschaft der Inder ist aber weniger »Opium fürs Volk«, sondern vielmehr der Ausdruck eines Systems, der jedem Menschen seinen Platz zuweist. Indische Filme sind insofern selten regierungskritisch, sondern eher herrschaftsstabilisierend. Bollywood-Filme dominieren hierbei den Markt. Dennoch kommen auch zunehmend immer mehr kleinere Filme ins indische Kino, die auch indische Traditionen und das Kastensystem in Frage stellen.

Im indischen Theater gibt es zudem keine Tragödie, sondern zumeist ein Happy End. Internationale Anerkennung haben, in der indischen Literatur, vor allem Autoren wie Salman Rushdie, Arundhati Roy und Tarun Teipal erhalten. Immer bekannter wird aber auch die Dalit-Dichtung, die als eine Art indische Befreiungsliteratur gesehen wird. Der große Dalit-Dichter Namdeo Dhasal will in seinen Versen das Elend seiner Gemeinschaft plastisch darstellen.


by epikur


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