»Eigenverantwortung« - das neue Leitprinzip

23.04.2008

»Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen«
– Altbundeskanzler Gerhard Schröder


Für mehr direkte Demokratie: Pierre Bourdieu
Für mehr direkte Demokratie:
Pierre Bourdieu

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinen WerkenSozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Suhrkamp 1982 /
Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990
darauf hingewiesen, dass die Welt des Individuums sich im sozialen Raum, in symbolischen Ordnungen und in institutionellen Bedingungen abspielt. Die Wahrnehmung der Welt wird durch Ordnungsvorstellungen vorgegeben und strukturiert. Dabei nimmt die soziale Position des Einzelnen sowie sein »Habitus«, d.h. sein ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital eine wichtige Bedeutung ein. Die Macht legitimer Benennung und Weltdeutung kommt im wesentlichen den Regierungen und dessen Verwaltungen zu. Wenn also der ehemalige SPD Arbeitsminister Franz Müntefering davon spricht, dass es in Deutschland keine Unterschichten gäbe, sondern nur Menschen die es schwer haben, dann verschleiert er nicht nur gesellschaftliche Missstände, sondern konstruiert eine gesellschaftliche Wirklichkeit auf Basis seiner Ideologie. Eine objektive Wirklichkeit ist demnach nur in der Abstraktion vorhanden, de faktisch ist jedes Individuum ein zoon politikonEine Wesensbestimmung des Menschen welche auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurückgeht.
Demnach ist der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes Lebewesen.
, ein soziales Lebewesen. Insofern beeinflusst die Umwelt und insbesondere die Sprache den Menschen in entscheidender Weise. Wer die Begriffe besetzt und definiert, der steuert den Zugang zu den Dingen. Die Interpretationen, die Assoziationen sowie die Wahrnehmung der Realität werden davon beeinflusst. Eine grundlegende Neujustierung sozialer Gerechtigkeitsprinzipien in der Arbeits-, Sozial- und Wohlfahrtspolitik geht einher mit der Schaffung und (Neu-)Prägung von politischen Begriffen. Das politische Schlagwort der Eigenverantwortung genießt hierbei große Popularität und wird, mit Ausnahme der Linkspartei, von allen Parteien verwendet. Welche inhaltlichen Anknüpfungspunkte werden aber damit verbunden? Welcher politisch-wirtschaftliche Kontext wird damit beschrieben, befürwortet und vorangetrieben? Und schließlich: was passiert wenn fast alle politischen Akteure dieses Schlagwort, und der damit verbundenen Handlungsanweisung, positiv besetzen?

Wortchemie
»Um soziale Gerechtigkeit leben zu können, ist Eigenverantwortung der Menschen notwendig«
– Bundeskanzlerin Angela Merkel

Für mehr Eigenverantwortung: Gerhard Schröder
Für mehr Eigenverantwortung:
Gerhard Schröder

Der Begriff der Eigenverantwortung ist zunächst einmal ein politisches Schlagwort, welches dazu dient die komplexe Wirklichkeit zu vereinfachen und zu emotionalisieren. Neutral definiert bedeutet das Schlagwort, Verantwortung für sich selbst und seine Entscheidungen zu übernehmen. Demzufolge muss das Individuum auch die Konsequenzen aus der selbst getroffenen Entscheidung tragen. Die Eigenverantwortung ist nicht zwingend ein Gegensatz zur Solidarität, wird jedoch durch die politische Neuprägung des Begriffes zunehmend dazu gemacht. Die Politik instrumentalisiert diesen Begriff, sprich: hat ihm eine Bedeutung gegeben welches ihrer Ideologie und Denkweise entspricht. Ohne damit schon einen konkreten politischen Kontext erläutert zu haben, dient dieser Begriff quasi als Losungswort für marktliberale Politik. In Kapitel 1 »Fordern und Fördern« im Gesetz zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz4) heißt es zum Beispiel: »Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können«. Eigenverantwortung bedeutet hier, die Rechtfertigung zum gläsernen ALG2-Empfänger, denn jede Art von Vermögen des Individuums sowie seiner Mitbewohner soll zur Grundsicherung herangezogen und der Bedürftige dahingehend kontrolliert werden. Deutschland als sozialer StaatGrundgesetz Artikel 20: »Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat« verabschiedet sich hier zunehmend und verweist auf die Verantwortung des Einzelnen. Kritische Assoziationen mit dem Begriff hat Albrecht Müller, ehemaliger Berater von Bundeskanzler Willy Brandt sowie Kritiker der Agenda 2010 - Politik. Für ihn bedeutet das Schlagwort vor allem, den zunehmenden Abbau der staatlichen Fürsorgeleistungen und die gleichzeitige Legitimierung dessen über den Begriff der Eigenverantwortung. Freiheit und Eigenverantwortung könnten nur realisiert werden, wenn die soziale Existenz jedes Bürgers gesichert sei. Sie sollten eben nicht den Gesetzen des Marktes, indem die Macht – und Ressourcenverteilung nicht gleichmäßig verteilt sei, schutzlos ausgeliefert werden.Albrecht Müller. Die Reformlüge. Droemer Verlag 2004. S.313

Losungswort bei den Parteien
»Selbsthilfe und Eigenverantwortung sind die leitenden Motive gegenwärtiger grüner und auch hartzscher Modelle des Sozialen«
– Dirk Jacobi, Grüne Berlin

Mit Ausnahme der Linkspartei benutzen alle Parteien in Deutschland diesen Begriff und definieren ihn als positive Handlungsanweisung auch in ihren Parteiprogrammen. Während Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zwar unterschiedlich definiert aber dennoch als die historisch zentralen Schlagwörter aller deutschen Parteien gelten, gewinnt der Begriff der Eigenverantwortung immer mehr an Bedeutung. Wie ein Leitmotiv durchzieht das Schlagwort viele Politikfelder. Es symbolisiert weniger Staat und mehr Markt. Weniger staatliche Solidarität, dafür mehr privates Risiko. Folgende politische Leitlinien und Handlungselemente gehen von diesem Schlagwort als zentrale Idee aus:


Profit in der Wirtschaft
»Eigenverantwortung statt Bevormundung und Staatsgläubigkeit«
– Aus dem FDP Grundsatzprogramm

Für mehr Privatisierung von Lebensrisiken
Für mehr Privatisierung von
Lebensrisiken

Auch in der Wirtschaft hat das Schlagwort eine durchgehend positive Bedeutung. Eine zunehmende Verlagerung von staatlicher Solidarität und sozialer Absicherung hin zu privater Absicherung von Lebensrisiken (Eigenverantwortung fördern!) bedeutet für Banken und Versicherungen ein Milliardengeschäft. So definiert ein Ökonomie-Wörterbuch das Schlagwort als den entscheidenden sozialen Wandel zur Jahrtausendwende. Er befördere die Transformation der Arbeitskultur, in der mehr Eigenständigkeit und Unternehmertum gefragt seien, das Selbstverständnis als Ich-AG. Dazu gehöre vor allem, wie bei einer realen Aktiengesellschaft permanent am Kurswert der eigenen Person zu arbeiten, so das Wirtschaftswörterbuch. Hierbei wird deutlich, dass der Mensch als Ware und Humankapital zur Vermehrung des Profites eines Unternehmens und eben nicht als ein eigenständiges, selbstbestimmtes Lebewesen betrachtet wird. Auch die arbeitgebernahe INSM definiert Eigenverantwortung als das liberale Recht auf Selbsteigentum sowie als die individuelle Freiheit im Sinne eines Marktzugangs. Der Staat habe dem Bürger durch ein zu großes soziales Sicherungssystem zuviel Verantwortung abgenommen und es gelte dieses wieder rückgängig zu machen. Bezeichnenderweise hat gerade die Karstadt-Quelle-Versicherung Eigenverantwortung zum Thema einer Studie gemacht. Darin wird schnell deutlich worum es der Versicherung geht und in welchem Kontext sie dieses Schlagwort benutzen: die Deutschen sollen endlich mehr privat vorsorgen damit Versicherungen, insbesondere hier natürlich die Karstadt-Quelle-Versicherungen, größere Profite einfahren. Die Studie selbst gibt z.B. an, dass viele Menschen in Deutschland finanzielle Gründe vorschieben würden, wenn es heißt, sie würden nicht ausreichend fürs Alter vorsorgen. Dass viele Menschen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, Inflation, Hartz 4, gestiegenen Strom- und Gaspreisen sowie einer sinkenden Reallohnentwicklung einfach weniger Geld zur Verfügung haben, wird hier kaltschnäuzig ignoriert. Die Studie kommt schließlich zu dem Fazit, dass ein verlässlicherer politischer Kurs und einfachere, leichter verständliche Versicherungsprodukte für die private Vorsorge anzustreben seien. Eigenverantwortung bedeutet hier nichts anderes als ein großes Geschäft für Versicherungen und Banken, welche die staatliche Vorsorge als unzureichend und ungenügend diffamieren, um Millionen Menschen in die private Vorsorge zu treiben, um so schließlich Milliarden Euro Gewinne zu machen. Dabei ist die private Vorsorge keineswegs sicherer oder besser als die staatliche. Ein Blick in die USA, indem regelmäßig Menschen ihre Altersvorsorge durch Spekulationsblasen, Wertverlusten von Immobilien und Aktien sowie durch die Auflösung von Pensionsfonds verlieren, sollte genügen um eine naive Marktgläubigkeit abzulegen.

Für mehr Verteilungsgerechtigkeit: Willy Brandt
Für mehr Verteilungsgerechtigkeit:
Willy Brandt

Fazit
Die inflationäre Benutzung des Schlagwortes der Eigenverantwortung ist der Versuch zur Legitimierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Schließlich soll dieser Begriff eine Wirklichkeit konstruieren, indem jeder sein individuelles Glück und persönlichen Erfolg in der freien Marktgesellschaft finden kann, wenn er sich nur ordentlich anstrengt (Stichwort: Leistungsgerechtigkeit). Wer es dann nicht geschafft hat, hat sich nur nicht genug angestrengt. Dass in Deutschland strukturelle Ungerechtigkeiten vorherrschen haben alle PISA-Studien eindeutig bewiesen. Auch die 1. World Vision Kinderstudie bestätigte, dass in Deutschland die soziale Herkunft den Bildungsverlauf weitgehend bestimmt und eben NICHT die eigene Leistung. Gymnasien besuchen nur 1% der Kinder aus der Unterschicht, aber 18% der Kinder aus der Oberschicht. Die Eigenverantwortung löst sich zudem von dem traditionellen Gerechtigkeitsideal der SPD einer Verteilungsgerechtigkeit und beschwört die Chancengerechtigkeit. Ziel sei es fortan eben nicht mehr den gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu verteilen, sondern nur noch die Individuen dahingehend zu befähigen am Erwerbsleben teilnehmen zu können. Diese individuelle Befähigung könne chancengerecht verteilt werden, so die Leitidee des aktivierenden Sozialstaates und der Eigenverantwortung. Ignoriert werden dabei eine Reihe vorrausetzungsvoller Bedingungen. Der Zugang zu wichtigen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Handlungsressourcen sind ungleich verteilt und werden selbst bei erfolgreicher Aktivierung des Einzelnen nicht aufgehoben. Die Reichtumsverteilung in Deutschland ist laut dem 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sehr ungleichmäßig verteilt. Während die unteren 50% der Haushalte nur über etwas weniger als 4% des gesamten Nettovermögens verfügen, entfallen auf die vermögendsten 10% der Haushalte knapp 47%. Auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt beim Aufstieg von prekärer Beschäftigung in stabile Erwerbsarbeit sind ungleich verteilt, denn prekäre Beschäftigung tritt verstärkt in bestimmten Erwerbsgruppen und Soziallagen auf.Klaus Kraemer. Eigenverantwortung und Teilhabe. Eine Einführung.
In: FIAB-Forschung. Von der Statussicherung zur Eigenverantwortung? Bochum 2005/2006.S. 136
Das Schlagwort der Eigenverantwortung gehört zu einer ganzen Reihe von politischen Schlagwörtern, welche die Wahrnehmung der Wirklichkeit ideologisch neoliberal filtern und insofern bestehende Herrschaftsverhältnisse legitimieren will.

» Weitere Artikel zum Thema Eigenverantwortung im ZG-Blog.

by epikur



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